Was für ein wunderbarer Moment:
Ich sitze in der Sonne an Deck, warm eingepackt, denn es ist empfindlich kalt. Das Steuerhaus der Selma bietet ein wenig Windschatten. Der Wind weht kräftig, mit heftigen Böen aus Süd, die an der Ankerkette zerren. Doch wir liegen gut geschützt in einer Bucht auf der Nordseite von Beak Island in der Duse Bay im Weddell Meer. Draußen treiben Eisberge in allen erdenklichen Formen und Schattierungen von weiß, grau und blau vorbei, das Wasser ist bedeckt von Schaumkronen. Hier lagen wir bereits vorgestern und wissen um den guten Schutz vor Wind und herein driftendem Eis. Die Möglichkeiten sind aufgrund des aktuell starken Windes und vieler von Eis blockierten oder von treibendem Eis bedrohten Buchten momentan beschränkt.
Fast der gesamte Rest der Crew ist an Land unterwegs. Ich nutze die Zeit der Ruhe an Bord für eine kleine Pause, zum Innehalten. Die letzten Tage waren sehr intensiv, angefüllt voller Erlebnisse, magischer Momente, Entdeckungen, Begegnungen… ich habe sie, wir alle haben sie genossen und aufgesogen wie ein Schwamm. Die Drake Passage, die ersten Schritte auf antarktischem Boden, die faszinierende, weite Landschaft, der eisige kräftige Wind, Eisberge, Eisschollen, Treibeis, Packeis … die bereits jetzt schon zahlreichen Begegnungen mit Tieren, darunter Buckelwale, Orcas, Finnwale, Pelzrobben, Weddellrobben, Seeleoparden, Seeelefanten, verschiedenen Pinguinarten und zahlreiche Seevögel.
All diese Eindrücke, einer schöner und überwältigender als der andere, wollen erst einmal verarbeitet werden, sortiert…die Festplatte ist sozusagen voll und braucht etwas Wartung.
Die Tage verschwimmen, driften ineinander wie das treibende Eis ringsum. Was war gestern? Was vorgestern? Manchmal ist dies schwer zu unterscheiden, irrelevant sowieso. Hier und Jetzt ist der Maßstab in der Antarktis. Jeder Moment etwas besonderes, ein Geschenk. Pures Glück, hier zu sein, diesen wunderbaren Teil unserer Erde erleben zu dürfen, entdecken zu können. Boden zu betreten, den nur selten – wenn überhaupt – ein menschlicher Fuß berührt hat. Gipfel zu erklimmen, oft namenlos und – verglichen mit alpinen Maßstäben – nicht besonders hoch, die dennoch mit einer Aussicht aufwarten, die einem schlicht den Atem raubt (wenn’s der oftmals starke Wind nicht ohnehin schon tut). Grandiose Panoramen, die kein Foto oder Video letztendlich einzufangen vermag. In ihrer Größe und Weite überwältigend und maßstabslos. Riesige Eisberge sprenkeln die Buchten und den Ozean, sie wirken von oben oder aus der Entfernung lediglich wie crushed ice, die Dimensionen verschieben sich. Aufgrund der klaren Luft sind Entfernungen für das ungeübte Auge nicht oder nur sehr schwer einzuschätzen. Küstenlinien oder Eisberge die nur eine Handbreit entfernt zu sein scheinen, liegen oftmals noch ein paar Meilen entfernt.
Grandios mitunter auch die Wolken am Himmel. Starke Höhenwinde produzieren Föhnlinsen und riesige Wolkenwalzen, die dramatisch über uns hinweg jagen. Wenn dann zu Zeiten der Dämmerung noch das magische Licht des antarktischen Spätsommers dazu kommt, mit seinen mal sanften, mal kräftig intensiven Farben, die den Himmel ein ein Feuerwerk verwandeln, ein Meer aus Licht und Farbe, wird man ganz sprachlos und ehrfürchtig angesichts dieses Naturschauspiels.
Ganz wunderbar ist auch die Crew und das gemeinsame Leben an Bord. Wie schön, mit genau diesen zehn Menschen hier zusammen zu sein. Auch das ist ein Geschenk und großes Glück: Da finden sich im Laufe anderthalb Jahre acht gänzlich verschiedene, einander bis dato unbekannte Menschen zusammen, die aus teils völlig unterschiedlichen Ambitionen und Beweggründen dieses Abenteuer teilen wollen. Plus ein ebenso unbekanntes Skipper-Team. Und hier an Bord der Selma, wo es mitunter eng zu geht, wo es gilt, als Team zu funktionieren, aufeinander Rücksicht zu nehmen und acht zu geben, sich aufeinander verlassen zu können, erweist sich diese Kombination bisher als ein Glücksgriff, als ausgewogen, harmonisch, als gute und humorvolle Gruppe. Jeder einzelne mit seinen Eigenheiten bereichert das Leben an Bord, die gemeinsamen Wachen laufen Hand in Hand. Alle untereinander, aber besonders Piotr, Wojtek und Ewa sorgen mit uneingeschränkter Aufmerksamkeit für unser Wohlbefinden, ob beim Segeln, bei Manövern, während und zwischen den Wachen, beim Landgang … vor allem aber in kulinarischer Hinsicht. Gutes Essen = genug Energie = positive Stimmung – das ist eine einfache Gleichung. Und diese geht auf, ob bei den Mahlzeiten, die das jeweilig zuständige Küchenteam zubereitet, bei Kaffee und Tee zwischendurch oder bei den unglaublich leckeren und mit viel Liebe bereiteten Desserts und Leckereien von Ewa und Wojtek. Keinen einzigen dieser Menschen hier auf dem Boot, diesem kleinen eigenen Selma-Kosmos, den wir zu elft bevölkern, möchte ich missen, und ich freue mich über jeden gemeinsamen Tag, den wir hier noch verbringen werden.
Während der ersten Tage unterwegs, die vor allem in der Drake Passage, aber auch hier im meteorologisch instabilen und eislastigen Weddell Meer viel Aufmerksamkeit und Energie während der Wachen und Schlaf zwischen denselben verlangt haben, fehlte noch ein wenig die Ruhe für entspannte und vertraute Zwiegespräche … aber mit zunehmender Gewohnheit werden wir auch dafür ausreichend Zeit haben und finden. Auch Tage wie dieser heute sind dafür perfekt.