Nachtgedanken

Nur noch 100 Meilen bis Stanley

Es ist zwei Uhr nachts. Ich sitze draußen an Deck, habe gerade von Unda die Nachtwache für die nächsten vier Stunden übernommen. Die ersten zwei davon habe ich allein für mich, dann kommt Peter dazu. Ich genieße diese einsamen Stunden allein mit der Nacht und dem Meer jedes Mal aufs Neue.

Über mir hat sich die klare Nacht ausgebreitet, der Mond ist schon wieder untergegangen. Ein funkelnder Sternenhimmel spannt sich über mir auf, das mittlerweile vertraute Kreuz des Südens kitzelt wie immer Selmas Mastspitze. Nur im Südwesten färben Wolken den bereits dunklen Himmel noch etwas schwärzer.

Da zieht etwas herauf. Ob ein ausgewachsener Sturm oder nur Starkwind, wird sich in ein, zwei Stunden zeigen. Die Wettermodelle waren sich diesbezüglich uneins. Der Wind pfeift mit knapp 20 Knoten aus Südwest, Tendenz steigend. Das Besansegel ist noch gesetzt, und wir warten erst einmal ab. Das Ruder mit 11 Grad nach Steuerbord eingeschlagen, driften wir mit 1 bis 1,5 Knoten Fahrt nach Norden, unserem Ziel entgegen.

Noch rund einhundert Meilen sind es bis zu den Falklands. Nur!

Bei rauschender Fahrt sind dies elf, zwölf Stunden, bei guter wären wir in zwanzig Stunden da. Dann wäre dies meine letzte Wache, nachts an Deck der Selma. Keine schöne Vorstellung, denn wenn ich ehrlich bin, will ich überhaupt noch nicht ankommen. Denn Port Stanley bedeutet das Ende unserer Reise, zumindest unseres Segelabenteuers.

Klar haben wir noch eine Woche Zeit, die Falklands zu erkunden. Aber wir müssen uns von der Selma verabschieden – von Piotr, Voy, Ewa. Allein der Gedanke fällt mir unendlich schwer. Ich mag gar nicht daran denken, dieses feine, zu einem Zuhause gewordene Boot und diese lieb gewonnenen Menschen zu verlassen. Abschiede fallen meist schwer, das von Bord gehen, besonders nach einer solch langen, intensiven Zeit umso mehr. Das mochte ich noch nie. Und ich habe nicht nur einmal mit dem Gedanken gespielt, einfach an Bord zu bleiben, die Falklands ohne mich im Kielwasser verschwinden zu lassen und die Selma noch mit zurück nach Ushuaia zu segeln. Verlängerung sozusagen…

Andererseits: Natürlich freut man sich, nach so langer Zeit auch wieder aufs nachhause kommen, auf die Familie, Freunde. Auf so manche Annehmlichkeit, manchen alltäglich und selbstverständlich gewordenen Luxus, den eine solche Reise nicht bietet. Ein warmes Bad, ein frisches Bett, etwas bestimmtes zu Essen, den Duft des erwachenden Frühlings, sprießendes Grün… aber eigentlich hat es uns während der letzten knapp sieben Wochen an nichts gefehlt, habe ich derlei Dinge nicht vermisst. Im Gegenteil: ich hatte alles, was ich brauchte, was für den Moment wichtig war. Mehr als das. Meine Tage und Nächte waren lebendig und erfüllend und genauso habe ich mich gefühlt: lebendig und erfüllt.

Ich habe eine Welt erkunden können, die mich seit meiner Kindheit fasziniert hat, die ich bisher nicht oder nur aus Erzählungen, Berichten, Büchern, Filmen kannte. Habe atemberaubende Landschaften und eine reiche Tierwelt entdeckt, die mich jeden einzelnen Tag beeindruckt haben, begeistert, verzaubert, überwältigt, überrascht, beglückt. Ich war an Orten, die ich zu sehen, zu ersegeln jahrelang erträumt hatte – das hat mich fasziniert und zutiefst berührt.

Ich habe all diese Erlebnisse mit zehn wunderbaren Menschen geteilt, die ich in dieser Zeit ein wenig kennenlernen durfte. Wir hatten all die Wochen Freude an diesem Abenteuer und Spaß zusammen, konnten uns aufeinander verlassen, haben füreinander gesorgt und freuen uns immer noch jeden Morgen über den nächsten Tag miteinander, auf die nächste gemeinsame Wache.

Deshalb würde ich am liebsten das Ruder herumreißen, den Kurs wieder auf Süd drehen und mit der Selma und genau dieser Crew weitersegeln. Nach Süden, Osten oder Westen. Ganz egal. Wohin auch immer, Hauptsache weiter. Hauptsache Meer.

So zwiespältig und hin- und hergerissen wie ich mich gerade fühle, hat sich auch die Drake in den letzten Tagen gezeigt. Diese eigentlich wilde Ozeanpassage im Südpolarmeer, berühmt berüchtigt für die in kurzen Abständen durchjagenden gewaltigen Sturmtiefs, besonders jetzt im Herbst, hat uns überrascht. Und auch ein wenig enttäuscht.

Wie bereits während unserer ersten Querung auf dem Weg von Ushuaia in die Antarktis hat sie genau diese ihr zugeschriebene Wildheit vermissen lassen. Uns riesige, mit weißer Gischt überzogene Wellenberge und einen ausgewachsenen Sturm verwehrt – oder erspart, wie man‘s nimmt.

Woran es liegt? Wir wissen es nicht. Alles verändert sich, auch und besonders hier. El Niño könnte mit ein Grund dafür sein, denn insgesamt war es hier weit im Süden wärmer, wechselhafter, nasser. Zahlenmäßig weniger und weniger ausgeprägte Tiefdruckgebiete zogen von West nach Ost, somit gab es auch deutlich weniger starken Wind oder überhaupt Wind, was wir während der gesamten Reise gemerkt haben. Wir hatten leider viel weniger Segeltage als erwartet, als üblich.

Eine Woche auf See

Vor sechs Tagen sind wir in Elephant Island aufgebrochen. Diese sechs Tage waren ein unsteter Mix aus entweder kräftigem Wind oder Flaute. Abwechselnd konnten wir ein paar Stunden, einen Tag, eine Nacht bei 20-25, mal 30 Knoten Wind richtig gut segeln, um am nächsten Morgen bei öliger, träger, spiegelglatter See aufzuwachen und in einen nahezu windstillen Tag hineinzugleiten, bei 4-6 Knoten Wind und kaum Fahrt herumzudümpeln.

Mal rauschte die Selma unter voller Besegelung mit 11 Knoten durch die aufgewühlte See und am Steuer musste man so richtig arbeiten, mal flappten die Segel, wenn der Wind urplötzlich wieder einschlief. Und statt uns musste Mr. Perkins ran.

Der Ozean um uns herum war dann alles andere als rau und wild. Er glich dann eher einem großen, ruhigen See, je nach Sonne mal blau, mal grau gefärbt. Nur die stets hohe und gewaltige Dünung, ihre Wellenberge und Täler, die Selma wild schaukeln und rollen ließen oder die uns von Zeit zu Zeit begleitenden Albatrosse erinnerten dann daran, dass wir uns auf dem Meer befinden.

Die Albatrosse, die so unglaublich elegant und mit Leichtigkeit segeln, selbst bei nahezu Windstille noch jedem Wellenberg und -Tal ein wenig Auftrieb für ihren schwerelosen Flug abgewinnen können. Sie zu beobachten ist wunderbar.

Aber auch das ist unterwegs sein und segeln. Mehr als es nehmen wie es kommt, konnten wir ohnehin nicht und so freuten wir uns über jeden Knoten Wind, jede Segelstunde, jeden wilden Ritt über die beeindruckend hohen Wellen. Und nahmen auch die Flaute an: genossen die damit einhergehende Ruhe, die Sonne, die Wärme, den Müßiggang. Wir saßen oder tanzten an Deck in der Sonne, lüfteten unsere Klamotten, zelebrierten Karens Geburtstag, machten klar Schiff… eines Vormittags wagten wir sogar einen Sprung ins 4,5 Grad kalte Südpolarmeer. Ein erfrischendes Vergnügen – langanhaltendes Prickeln und ein breites Grinsen inklusive. 3.500 Meter Ozean unter sich. Und wer kann schon von sich behaupten, in der wilden Drake Passage gebadet zu haben?

Jetzt ist es vier, der Himmel komplett zugezogen, die dunklen Wolken und das Wetter haben uns erreicht. Der Wind – zwischenzeitlich auf fast 30 Knoten aufgefrischt – hat auf Süd gedreht, wieder auf 15 Knoten nachgelassen.

Zeit, einen Kaffee zu kochen und Piotr zu wecken. Zu schauen, zu entscheiden. Vielleicht mehr Segel zu setzen, vielleicht einfach noch eine Weile weiter zu driften … Mal sehen.

Ich für meinen Teil habe Zeit und keine Eile anzukommen. Im Gegenteil.

Sonnenaufgang am Lake Drake

Neptun und Aiolos, die Götter des Meeres und der Winde, scheinen zu schlafen, ebenso unsere Crew. Es ist 6 Uhr morgens, ich sitze an Deck der Selma, welche in der Dünung schaukelt. Meist sanft, doch manchmal rumpelt und scheppert es auch laut in den Schränken mit den Tassen und Gläsern. Seit 36 Stunden dümpeln wir in der Drake Passage, driften ein wenig durchs Blau. In den Wetterbildern hängen wir in einem blauen Loch fest, einer Zone ohne Wind. Das ist unüblich, meist zieht hier ein Tief nach dem anderen durch, die Drake ist berüchtigt für ihre Stürme.

Jetzt ist sie ein großer graublauer See, am Horizont ein paar weiße Wolkenberge im Westen, während sich im Osten der Himmel für den Sonnenaufgang in Gelb und Orange kleidet. Es ziehen Albatrosse und Sturmvögel vorbei und plötzlich plätschert ein einzelner Pinguin neben dem Boot.

Abschied und Loslassen

Es ist so schön und so friedlich, dass ich melancholisch werde. Dies sind die letzten Tage unserer langen, wunderbaren, erlebnisreichen Reise. Ich möchte gern bleiben in dieser grandiosen Landschaft, mit diesen zauberhaften Menschen, auf diesem treuen Schiff. Einfach weiterfahren, im Moment bleiben.

Deshalb bin ich einverstanden mit dieser Pause, welche uns das Wetter verordnet und genieße den Sonnenaufgang, die Untätigkeit, das kurze Verharren mitten im Ozean.

Gegen 8 Uhr wird es lebendiger an Bord, Kaffee und Tee in der Morgensonne, später ein ausgedehntes Frühstück. So viel Zeit nahmen wir uns bisher selten, meistens waren wir unterwegs im Rhythmus des Wachplans oder mit Landgängen und Exkursionen irgendwie beschäftigt.

Warten auf Wind ist Müßiggang und so dauert es nicht lange, bis die Unruhe der Lebendigkeit eine Idee präsentiert: „Laß uns baden gehen in der Drake!“

Dieser Plan ist verrückt genug, um sofort Anhänger zu finden. Auch der Käptn gibt grünes Licht und will lediglich wissen, wann wir ins Wasser möchten, um die kleine Badeplattform und eine Sicherheitsleine vorzubereiten.

Aus den hintersten Winkeln der Schränke werden Badesachen hervorgeholt, die Skeptiker machen die Kameras startklar, um das Ereignis zu dokumentieren.

Und dann ein beherzter Sprung ins 4,5 Grad kalte Wasser. Der „Drake-Dip“ ist ein zeitlich eher kurzes, dafür sehr erfrischendes Erlebnis mit einem lange prickelnden Nachklang und einer guten Portion Glückshormonen.

Zur Feier des Tages gibt es noch für alle die Möglichkeit zu Duschen und passend zum Badewetter kreiert Paula in der Pantry Toast Hawaii.

14 Uhr kommt leichter Wind auf und um 18 Uhr setzen wir das Großsegel. Auf dem Backbordbug rauschen wir durch die Wellen, genießen feinstes Segeln.

Als es dunkel ist, sehen wir es im Wasser glitzern. Bioluminiszente Organismen funkeln neben dem Boot, angeregt durch unsere Begegnung. Für mich ist es immer wieder magisch, das zu beobachten.

Dieser Tag ist wie ein Spiegel unserer langen Reise: verrückt und lebendig, abenteuerlich und lustig, bewegt und bewegend, beglückend.

Flexibel sein und annehmen, was gerade ist, unbedingt getragen vom gemeinsamen ‚Wir’ unserer kleinen Gemeinschaft.

Wir setzen unseren Weg fort Richtung Falklandinseln. Keine 400 Meilen trennen uns mehr vom Endziel unserer Reise.

Wir werden loslassen müssen und Abschied nehmen – von der Selma und von einander. Das Herz und den Kopf voll von unzähligen wunderbaren Erinnerungen an unsere phantastische Reise.

Noch aber ist es nicht soweit. Noch bleiben uns einige Tage, etliche Meilen, ein zu feiernder Geburtstag, Wind, Flaute, Sonne, Wellen…

Kurs Elephant Island

Vor zwei Tagen, am Sonntag, haben wir morgens früh um vier den Anker gelichtet, Deception Island verlassen und Kurs 060 auf Elephant Island gesetzt. Gut 200 Seemeilen liegen zwischen diesen beiden Inseln, die beide zu den South Shetland Islands gehören. Wir haben uns entlang der Küste auf der Westseite der Bransfield Strait gehalten und nach und nach die Inselkette passiert.

Auf Höhe der Südostecke von Robert Island kreuzten wir Selmas alten Track, den unserer Ankunft in der Antarktis Anfang Februar, nach Querung der Drake Passage. Seitdem ist eine gefühlte Ewigkeit vergangen, haben wir viel erlebt.

Über die Nacht legten wir nach circa 70 Meilen nochmal einen Stopp ein und ankerten in Potter Cove, King George Island vor der argentinischen Station Carlini. Die nächsten Tage und Nächte werden wir genug unterwegs sein, da tut eine letzte Pause und ruhige Nacht ohne Eisnavigation nochmal gut. Am später einsetzenden Morgengrauen merkt man bereits, dass wir den Süden langsam hinter uns lassen.

Auf dem Weg entlang der South Shetlands haben uns erneut viele Wale begleitet, überall um uns herum war Blas zu sehen, manchmal 10 bis 12 gleichzeitig. Diesmal waren es größere Gruppen Seiwale, die entlang der Küste wanderten. Viele Pinguine – Gentoo und Chinstrap Pinguine – waren unterwegs, ebenfalls in größeren Scharen, die, wenn der Bug der Selma ihnen zu nahe auf die Pelle rückte, reißaus nahmen und wie Torpedos aus dem Wasser schießend das Weite suchten. Mehrfach haben uns auch Pelzrobben eskortiert, in kleinen Gruppen von drei oder vier Tieren, geschmeidig und in eleganten Bögen durchs Wasser springend, schwimmend, tauchend.

Die Eisberge werden immer seltener. Wir freuen uns über jeden, wohl wissend, dass einer von ihnen der letzte sein könnte, dem wir auf unserer Reise nach Norden im Kielwasser lassen. Dem Koloss A23A werden wir ja leider nicht begegnen – dieser mit 4000 km2 bis dato größte Eisberg der Welt ist derzeit zwischen Elephant Island und den South Orkney Inseln unterwegs.

Abends frischt der Wind auf, endlich sind wir aus dem Windschatten von King George Island heraus. Das offene Südpolarmeer begrüßt uns mit einer ziemlich hohen Dünung und perfektem Segelwind um die 20 Knoten. Die Fock leuchtet warm in der Abendsonne, Wind aus 150-160 Grad von Achtern und die sechs Meter Welle schieben uns ordentlich vorwärts. Wir laufen nur mit dem Vorsegel neun Knoten, die Selma rauscht durch die Nacht, eine riesige Welle, vom Schaum weiß gekrönt ab und an mit Getöse unter uns durch. Dann hebt es uns weit hinauf auf den Wellenkamm und wir surfen hinab in die weiße Gischt. Das Meer schäumt und brodelt, als würde es kochen. Es macht riesigen Spaß, am Steuer zu stehen, durch die Nacht zu segeln, nichts herum als Ozean, tanzende Wellenberge und später sogar ein paar Sterne am Nachthimmel.

Später taucht etwas Eis auf dem Radar auf. Wir sind zu schnell unterwegs – für die Eisverhältnisse und für eine Ankunft bei Tageslicht – und wechseln vom großen Vorsegel auf den kleineren Klüver.

Später wird sogar auch dieser für zwei Stunden geborgen, wir laufen ohne Segel vor Top und Takel, machen immer noch drei bis vier Knoten Fahrt. Jetzt sind es nur noch Wind, Wellen und Strömung, die uns vor sich her schieben. Die Selma rollt unerträglich von links nach rechts, aber sie tut dies immerhin passend zum Kurs. Selbst als wir später wieder Segel setzen, bleiben wir Spielball der hohen Wellen. Wir in unseren Kojen rollen genauso, an erholsamen Schlaf ist nicht zu denken.

Wirkliche Beschwerden darüber gibt es jedoch nicht: Immerhin sind wir nach viel Einsatz von Mr. Perkins standesgemäß segelnd nach Elephant Island unterwegs.

Seitenwechsel

Endlich! Wir segeln wieder!

Haben nach gestrigen 40 Knoten Wind direkt auf die Nase und einer anfangs sehr unruhigen Nacht vor Anker in der Hope Bay im Antarctic Sound nun moderate 25 Knoten Wind aus WSW. Das zuletzt mangels Wind und / oder zu viel Eis vertraut gewordene, aber dennoch unbeliebte Geräusch von Mr. Perkins ist verstummt und hat Platz gemacht. Zwar nicht der Stille im herkömmlichen Sinne, aber der Stille des Segelns: dem Pfeifen des Windes in den Segeln und Wanten, dem Gurgeln des Wassers entlang des Rumpfes, dem Rauschen und Schlagen einer überkommenden Welle und Rumpeln und Klappern des Geschirrs in den Schränken. Drei Segel sind gesetzt: die Fock, das Groß im dritten Reff, der Besan. Die Selma rauscht mit 11 Knoten dahin.

Auch die Sonne der letzten Tage hat sich gestern Abend mit einem Finale furioso von uns verabschiedet: goldgelb, orange leuchtende Wolken, vom starken Höhenwind teils zu geschichteten Linsen verweht, dramatisch leuchtend vorm düster dunkelgrauen Himmel. Sie hat Platz gemacht für einen bleigrauen verwaschenen, nebligen Himmel über schwer bewegter See in der Farbe von Schwarzstahl. Komplettiert vom Weißgrau, graublau, weißblau, oder tiefblau vorbeiziehender Eisberg Giganten – manche im fernen Dunst vorbeitreibend, mal perfekte geometrische Formen, mal Märchenschlössern oder Hochhäusern ähnelnd, einige in fast schon beunruhigender Nähe, zum Greifen nah. Man meinte, man könne die Hand ausstrecken und hinüber langen, um diese glatt schimmernde Oberfläche zu berühren.

Nach gut einer Woche im Weddell Meer auf der Ostseite der Antarktischen Halbinsel ist es Zeit für einen Seitenwechsel. Wir haben gestern den Antarctic Sound passiert und sind nun unterwegs in der Bransfield Strait. Ziel der nächsten Etappe ist die Westseite der Peninsula. Allerdings zwingt uns der Wind zu einem Umweg über, oder zumindest in die Richtung der South Shetlands. Doch wir sind flexibel und haben Zeit, daher freuen wir uns über die Ruhe und den Rhythmus, den das Segeln eines größeren Schlages mit sich bringt. Uns wachsen wieder Seebeine, wir genießen (bis auf ein Opfer der Seekrankheit) die souveränen Bewegungen der Selma im Spiel der Wellen, die visuelle Reduktion auf Himmel, Horizont und Ozean und die Gelegenheit, die unzähligen Eindrücke der vergangenen Tage zu verarbeiten.

Drake II

Team-Spirit

Ich liebe das Leben an Bord mit dieser Crew!

Das Wachsystem funktioniert super und jeder ist zuverlässig an seinem Posten, stets auch die anderen im Blick. Ich bin noch nie so oft am Tag lieb mit Tee, Kaffee und Keksen versorgt worden. Leckeres Porridge mit Früchten am Morgen und mindestens eine warme Mahlzeit vom Kombüsenteam (immer zwei andere Crewmenschen, Teil des Wachplans) gibt es auch.

Die Laune ist fast immer gut und wir haben jede Menge Spaß miteinander. Individuelle Besonderheiten Einzelner sind eher das Salz in der Suppe und werden mit Humor toleriert.

Danke Neptun!

Wir haben die Drake gemeistert und sind nun auf dem Weg ins Weddelmeer.

Die gefürchtete Wasserstraße war ziemlich zahm, die Hälfte der Meilen mussten wir mit Motorunterstützung segeln. Etwa 24h hatten wir guten Wind und die Selma hat sich als prächtiges Boot erwiesen, das unter Segeln wunderbar läuft.

Es gab schon erste Walsichtungen, Delfine begleiteten uns, wir sahen schwimmende Pinguine, eine neugierige Robbe und immer wieder natürlich verschiedene Seevögel.

Wettertechnisch gabs Sonne und Regen, die ersten Eisberge tauchten angemessen mystisch aus dem Nebel auf.

Am Freitag, 9. Februar, hatten wir gegen 18:00 Uhr Robert Island an backbord und damit die Shetlandinseln und Antarktische Halbinsel erreicht.

Danke Dir Neptun für Dein sicheres Geleit!

Drake the Lake und Drake the Shake

Wir haben’s geschafft!

Nach vier Tagen und Nächten liegt die Drake Passage hinter uns, gut 530 Seemeilen im Kielwasser. Sie hat uns gnädig empfangen, diese berüchtigte Ozeanpassage zwischen Pazifik und Atlantik, sich mit blauem Himmel und Sonnenschein mal von der sanften und harmlosen Seite präsentiert, aber zeitweise auch mal die Krallen ausgefahren und uns für einen Tag und eine Nacht spüren lassen, dass es hier so richtig ungemütlich werden kann.

Wenn man draußen am Ruder steht, dick vermummt, schwere, bewegte See und eine hohe Dünung, knapp 40 Knoten Wind im Gesicht, Regen und immer wieder eine ordentliche Salzwasserdusche über einen prasselt … gleichzeitig aber auch ein tolles Gefühl, dann allein am Ruder zu stehen, die Selma unter voller Besegelung (Klüver, Groß und Besan) unter den Händen zu spüren, sie laufen zu lassen in die wilden Wellen, die den Horizont immer wieder verbergen, hinaus in den weiten Ozean, nach Süden, hinein in die Nacht. Fast so, als ob sie wissen würde wo wir hinwollen, findet die Selma ihren Weg von allein.

Tag 1

Wir sind bei Sonnenschein gestartet, haben das berühmte Kap Horn knapp 16 Seemeilen an Steuerbord liegen und dann im Kielwasser hinter uns gelassen. Albatrosse tauchten immer wieder auf und umkreisten einen Moment das Schiff. So elegant und mühelos glitten sie über die Wellenberge und -Täler – ein Traum vom Fliegen und Freude, ihnen dabei zuzusehen. Aus dem anfangs blauen Himmel begann es irgendwann zu nieseln, das Wetter schlug um, ebenso wie der Zustand von einem der Crew, welcher die Passage seekrank in der Koje verbrachte. Der Rest erwies sich als seefest.

Der Wetterumschwung brachte glücklicherweise auch ordentlich Wind. Wir änderten den Kurs von 180 auf 140 Grad und nahmen Kurs auf die Shetlands.

Tag 2

Der Mittwoch war ungemütlich, nach vier Stunden Wache war jeder froh, wieder ins warme zu kriechen, einen heissen Tee, Kaffee oder eine warme Suppe in der Hand. Dank der unermüdlichen Aufmerksamkeit vor allem von Piotr, unserem Skipper, Wojtek, Ewa und dem jeweiligen Galley-Team ist dafür jedoch stets gesorgt.

In der Nacht zum Donnerstag blieb es rau, in der Koje war es zwar wärmer und trocken, aber nicht unbedingt gemütlicher als am Ruder. Besonders im Vorschiff unmittelbar den Schiffsbewegungen ausgeliefert, rollte und hüpfte man mit der Selma auf, in und über die Wellen, während es ordentlich rumpelte, wenn der Bug in eine Welle krachte oder eine mächtige Welle übers Deck schlug. An Schlaf war nicht wirklich zu denken. Gegen Mitternacht überschritten wir die Antarktische Konvergenz und es wurde draußen und auch im Boot merklich kälter.

Tag 3

Der Donnerstag brachte Sonnen und bissige Kälte, leider aber auch nachlassenden Wind, so dass wir am Nachmittag bei nur noch 12 Knoten leider den Motor zur Unterstützung nehmen mussten … das hätten wir in der Drake Passage nun wirklich nicht erwartet.

Zum Trost gab es aus unseren Porridge-Resten vom Frühstück der letzen zwei Tage den Versuch eines Blechkuchens – wir tauften ihn kurzerhand Drake-Cake.

Am Abend sichteten wir auf 60.44 S 062.33 W den ersten Eisberg am Horizont. Ab jetzt hieß es also Ausschau halten.

Tag 4

Die letzte Etappe am Freitag, mal unter Segeln, nach Abflauen des Windes leider wieder auch unter Zuhilfenahme des Motors beschert uns die ersten Vorboten der Antarktis: wir sichten die ersten Wale – dem Blas kurz vor der Selma folgt wenig später der zugehörige Finnwal unmittelbar neben dem Schiff, wo er dann abtaucht. Immer wieder springen Pinguine neben uns aus und wieder ins Wasser, einzelne Robben folgen. Es wird neblig, immer mehr Eisberge und auch kleinere Growler kreuzen unsren Kurs. Und irgendwann taucht schemenhaft die erste Landmasse der Antarktis wie ein Schatten aus dem Nebel auf. Zunächst nur ein kleiner Felsen, watchkeeper genannt, dann Heywood und Table Island, mehr Felsen als Inseln … und dann segeln wir zwischen Robert und Greenwich Island in die Bransfield Strait.

Nun sind wir angekommen in der Antarktis!

Viel mehr als einen schmalen Küstenstreifen, dunkle Felsen, Schnee und Gletscherkanten können wir im Dunst noch nicht erhaschen. Doch dies wird sich in den kommenden Tagen sicher ändern!

Drake I

Mittwoch 07. Februar, Vormittag

Kap Horn und die Drake Passage. Das hatte ich mir wild und rau vorgestellt mit meterhohen Wellen und heroischem Segeln. Immerhin gilt die Querung von Feuerland in die Antarktis als stürmischste Wasserstraße der Welt. Stattdessen motoren wir durch eine Flaute und die gute Selma schaukelt sich durch die Dünung. Die Seekrankheit geradezu herausfordernd findet sie ein Opfer. Die restliche Crew erweist sich bisher als seefest.

3 Tage Puerto Williams

Die vorherigen Tage in Puerto Williams waren gefüllt mit diversen Aktivitäten und letzten Reisevorbereitungen und eine wunderbare Gelegenheit für die ganze Crew, sich besser kennenzulernen.

Nach behördlichem Einklarieren in Chile unternahmen wir eine Wanderung auf den Cerro la Bandera, genossen einen fabelhaften Ausblick auf den Beagle Channel und die Bergwelt ringsum und das Gefühl, die Beine nochmal ordentlich bewegt zu haben.

Auf der Selma gab es von Wojtek eine Sicherheitsunterweisung, von Ewa eine Einführung in Küche und Organisation auf dem Schiff und natürlich von Pjotr erste Lektionen zur Handhabung von Segeln, Leinen, Winschen etc.

Das Mountaineering Team checkte Ausrüstung, letzte Einkäufe wurden erledigt, ein letztes Mal geduscht.

„Don‘t stop me now“ (Queen)

😃 Und wir entdecken: unsere Crew kann feiern!

In der südlichsten Bar Amerikas war die Einteilung des Wachplans nach einem Pisco Sour schnell erledigt. Während wir am ersten Abend auf unser Abenteuer anstroßen und uns Geschichten erzählten, wurde am zweiten Abend wild und voller Lebensfreude getanzt bis weit nach Mitternacht nach unseren Lieblingssongs.

Leinen los

Und dann ist es soweit: am Montag, 5. Februar, abends gegen 19 Uhr werfen wir die Leinen endgültig los und verlassen Puerto Williams mit dem Ziel Antarktis. Die Expedition Sailing SOUTH 2024 kann starten.

Die letzen Tage haben gezeigt, dass wir menschlich und als Team gut harmonieren – ob sich dies auch auf See und für die lange Zeit von sieben Wochen auf dem engen Raum der Selma bestätigt, wird sich zeigen. Aber die Zeichen stehen gut. Die Stimmung an Bord ist prima, alle an Deck haben ein breites Grinsen im Gesicht.

Wir verlassen unter Motor den Beagle Kanal in Richtung Osten, das Wetter zeigt sich zum Abschied von seiner besten Seite und beschenkt uns mit Sonne und warmem Abendlicht. Vorbei ziehen Harberton Bay, wo wir noch vor wenigen Tagen waren. Die Erinnerung an Pablo, seine kleine Hütte und den im Vergleich dazu riesengroßen Stapel Brennholz ist noch frisch. Wenn Mitte Februar die zweite Lastwagenladung kommt, werden wir unterwegs sein.

Wir sehen aus der Ferne den Blas zweier Wale, zwei Pinguine tauchen unmittelbar neben der Selma aus dem Wasser. In der Nähe gibt es auf einer Insel eine Pinguinkolonie (Magellanpinguine), der Geruch verrät dies sofort selbst im Vorbeifahren.

Ursula und ich teilen uns die erste Wache und damit auch das Steuer. So schön und verheißungsvoll die ersten Tage auch waren: Es ist so wunderbar, nun endlich hier am Ruder der Selma zu stehen und diese Reise zu beginnen, unser schönes, rotes Schiff und uns hin zu unserem eigentlichen Ziel zu steuern.

Feuerland zieht an uns vorbei, Argentinien an Backbord, Chile an Steuerbord.

Wir auf der Selma mittendrin gleiten, die untergehende Sonne hinter uns, hinaus in die Nacht.

Die letzten chilenischen Inseln im Beagle Kanal, die Isla Picton und Isla Lennox lassen wir Steuerbords liegen und dann sind wir draußen auf dem Atlantik und ändern den Kurs auf 180 Grad Süd.

Vor uns liegt mit der Drake Passage eine der stürmischsten Ozeanpassagen der Welt. Wir alle sind neugierig, wie die Drake uns die kommenden Tage empfangen wird.

In tiefer Nacht setzen wir die Segel, zuerst die Fock, dann das Groß. Über uns strahlt die Milchstraße und zieht sich vom Bug bis zum Heck übers Firmament, das Kreuz des Südens küsst ab und an unsere Mastspitze. Dieser Moment ist einfach pures Glück und tiefe Zufriedenheit.