Seit fast einem Monat sind wir nun unterwegs. Weit im Süden angekommen. Und bereit für unsere geplante Tour an Land. Große Vorfreude für das fünfköpfige Mountaineering Team, bestehend aus Alan, Jan, Karen, Piotr und mir. Schließlich haben wir alles Equipment dafür mitgenommen, vorbereitet und in Puerto Williams und Vernadsky getestet.
Leider meint es der Wettergott diesmal nicht ganz so gut mit uns – er gönnt uns nur ein kurzes geeignetes Wetterfenster. Eigentlich wollten wir drei Tage an Land unterwegs sein, um auf das Plateau des Festlands der Antarktischen Halbinsel aufzusteigen. Nun mussten wir unsere Pläne ändern: statt der Eiskappe des Festlands wird es die von Adelaide Island, statt der geplanten drei Tage haben wir einen Tag und eine Nacht bis zum nächsten Vormittag Zeit. Das ist schade, doch wir sind und bleiben flexibel und ergreifen glücklich die Chancen, die sich uns bieten.
Aufbruch
Früh am Morgen des 1. März haben wir vor Leonie Islands den Anker gelichtet. Der Rest der Crew übernimmt liebenswerterweise unsere Wachen und das Frühstück, so dass wir uns um unser Equipment kümmern können. Es ist immer wieder erstaunlich, wie viel Platz und Stauraum so ein Boot bietet. Wir wühlen uns durch Schränke, Schapps, unter Bänke und in die Zwischenräume zwischen Salonwand und Bordwand und füllen binnen kürzester Zeit den Salon mit unseren Sachen: Hochtourenequipment (Seile, Gurte, Helme, Karabiner, Eisäxte, Steigeisen und Co), Zelte, Isomatten, Schlafsäcke, Kocher, Töpfe, Essen, Reserveklamotten und Notfallequipment … stapeln sich, werden sortiert und in den Rucksäcken und Schlitten-Packsäcken verstaut. Der Rest der Crew ergreift angesichts des von uns verbreiteten Chaos die Flucht an Deck oder ins Steuerhaus.
Dass die Selma währenddessen die Südostspitze von Adelaide Island nahe Cape Alexandra im Woodfield Channel und damit auch den südlichsten Punkt unserer Reise auf 67 47´ 700´´ S und 068 46´ 003´´ W passiert, verpassen wir dabei.
Gegen zehn erreichen wir unseren geplanten Ausgangspunkt, die ehemalige chilenische Station Teniente Carvajal an der Südwestspitze der Insel. Unzählige Eisberge und ein nahezu geschlossener Teppich aus großen und kleinen treibenden Eisstücken, crushed ice, liegen vor der Küste und wir bahnen uns langsam und knirschend einen Weg hindurch. Es beginnt zu schneien, der Wind bläst ungemütlich. Während der Anker fällt, holen wir die Pulkas und die Schneeschuhe aus der Vorpiek und das gesamte Equipment an Deck. In mehreren Etappen wird alles mit dem Zodiac an Land gebracht und auf die alte, von Wind und Wetter zerbröselnde Pier der Station gehievt.
Die Station ist seit Jahren verlassen. Mehrere Gebäude verwahrlosen hier im rauen antarktischen Klima vor sich hin, Unmengen an Müll, ehemaligem Baumaterial und Schutt liegen herum. Dazwischen ebenfalls Unmengen an Pelzrobben, die das Areal in Beschlag genommen haben und genauso wie die Skuas ihr Küken vehement ihr Territorium verteidigen, durch das wir uns samt unserer Ausrüstung einen Weg zu bahnen versuchen. In einem der offen stehenden Gebäude tauschen wir die Gummistiefel gegen Bergschuhe und lassen unsere Segelklamotten zurück. Wir suchen uns einen Weg zum Gletscherrand hinter der Station und bringen – erneut in Etappen – Pulkas, Packsäcke und Rucksäcke zum Startpunkt, im Zick-Zack zwischen umherliegendem Müll, glitschigen Felsen, neugierigen Pinguinen, fauchenden Pelzrobben, im Sturzflug attackierenden Skuas und schlafenden Seeelefanten. Nach einer gefühlten Ewigkeit seit unserer Landung – mittlerweile ist es Mittag – sind Gurte und Steigeisen angelegt, Rucksäcke und Helme aufgesetzt, alle in die Seilschaft eingebunden, die Pulkas um die Hüften geschnallt und wir endlich startklar. Die übrige Crew winkt zum Abschied und wir laufen los.
Aufstieg auf den Gletscher
Im unteren Bereich ist der Gletscher aper, das Eis liegt blank. Es dauert eine Weile, bis sich unsere Fünfer-Seilschaft zurecht ruckelt und ein gemeinsames Tempo findet. Alan führt, es geht zunächst den Gletscher hinauf auf die Eiskappe – das Fuchs Ice Piedmont. Nach einer halben Stunde treffen wir auf das Wrack eines Flugzeugs im Eis, Überreste einer abgestürzten chilenischen Twin Otter. Auf dem Eis liegen unzählige Fässer mit Treibstoff herum, der Blick zurück geht über die Bucht und Avian Island, vor uns liegt nichts als Weiß, links der von Eisbergen gesprenkelte Ozean, rechts begrenzen die wolkenverhangenen Berge der Princess Royal Range unser Sichtfeld. Es hat aufgehört zu schneien. Die nächsten Stunden bestehen einfach nur aus Gehen, Schritt für Schritt die sanft ansteigende Eiskappe hinauf. Mal mehr, mal weniger gleichmäßig finden wir irgendwann unseren Rhythmus. Es gibt nur wenige, schneebedeckte Spalten, die parallel zu unserer Laufrichtung verlaufen. Ein Schatten oder minimal eingesackter Schnee lassen sie meist erahnen. Zwei-, dreimal sacken wir ein, jedoch nur bis zum Knie. Der als Ziel avisierte Nunatak vor der Bergkette kommt nur langsam näher, auch hier halten uns die Entfernungen zum Narren, täuschen eine Nähe vor, die trügt. Das Grau des Himmels wird dunkler und dunkler. Die scharf gezogene Linie zwischen Eisfläche und Himmel, der Kontrast zwischen beidem sieht wunderschön aus. Mit der Zeit kommt ein Wolkenband hinzu, welches sich vom Meer her in unsere Richtung bewegt.
Gegen fünf, nach dreieinhalb Stunden beschließen wir, unser Lager aufzubauen. Der Nunatak und die Berge sind deutlich näher gerückt, aber noch nicht erreicht. Aber wir müssen am nächsten Morgen zurück, wollen spätestens um zehn wieder auf der Selma sein, bevor der Wind auf Süd dreht und das Eis weiter in die Bucht drückt.
Camp auf dem Eis
Wir prüfen das Gelände um das Camp auf Spalten, bauen die beiden Zelte auf, fixieren alles windsicher mit Schneestangen, Stöcken, Eisäxten … binden die Pulkas fest. Schnee wird geschmolzen und hungrig genießen wir vor den Zelten unser dreigängiges Menü aus dehydriertem Trekking Essen direkt aus der Tüte: vegetarische Pasta Bolognese, Creamy Pasta Alfredo und zum krönenden Abschluss Mousse au Chocolat. Satt und zufrieden vermissen wir den vergessenen Whisky oder Rum nur ein bisschen.
Es ist trotz warmer Daunenjacken empfindlich kalt geworden, die vom Meer heranziehenden Wolken haben uns erreicht und binnen weniger Minuten hüllen sie uns vollständig ein. Whiteout. Und Zeit, sich in die Zelte zu verkriechen, diese zwei kleinen gelben Punkte im großen, unendlich scheinenden weißen Universum um uns herum. Während wir es uns drinnen gemütlich machen, beginnt es draußen zu schneien. Es dauert ein wenig, bis uns warm wird – die drei Männer nebenan haben es wahrscheinlich kuscheliger als Karen und ich. Wir lauschen noch ein wenig gemeinsam den auf die Zeltwand rieselnden Schneekristallen und der antarktischen Stille, bis von nebenan leises Schnarchen herüber dringt und auch wir irgendwann einschlafen.
Acht Stunden ungestörter Schlaf liegen vor uns: keine Wache, kein Manöver, kein Eisberg, kein Ankeralarm … richtig genießen kann ich diese jedoch nicht. Es ist ein unruhiger Schlaf, zu oft werde ich wach. Auch der Rücken findet acht Stunden liegen ungewohnt lang und das Aufwachen morgens um vier daher gar nicht so schlimm. Wenn man nur nicht aus dem warmen Schlafsack müsste! Wir zögern dies maximal hinaus, schmelzen im roten Licht der Stirnlampen erstmal den am Abend im Vorzelt deponierten Schnee, löffeln warmes Müsli aus der Tüte. Erst danach schälen wir uns aus dem Schlafsack in die Klamotten und Schuhe, die – nachts unter den Kniekehlen unterm Schlafsack deponiert – halbwegs erträglich warm geblieben sind. Am Morgen bin ich froh um den vielen Platz zu zweit im Zelt, die drei nebenan haben’s da enger.
Der erste Blick aus dem Zelt entschädigt für das frühe Aufstehen und die Überwindung, sich aus dem warmen Schlafsack zu pellen. Es ist klar, der Mond steht noch am pastellfarbenen Himmel. Die Linie der Bergkette messerscharf, darüber ein paar Schleierwolken, zartrosa, wie gemalt. Der frische Schnee hat alles blütenweiß überzuckert, das Meer in der Ferne stahlblau, es wirkt wie zugefroren. Und im Osten färbt der nahende Tag den Himmel bereits golden. Ich kann mich kaum satt sehen, doch die Luft ist klirrend kalt. Nach und nach kommt Bewegung auch ins Nachbarzelt, einer nach dem anderen schält sich hinaus in den antarktischen Morgen.
Zurück ans Meer
Wir packen zusammen, bauen die Zelte ab, beladen die Pulkas, machen uns startklar. Ziehen zunächst alles an, was wir haben, um der Kälte zu trotzen. Das Anziehen der Steigeisen ist zwar einfacher ohne Handschuhe, aber es dauert lange, bis die Finger hinterher wieder warm werden. Es tut gut, endlich loszulaufen, die in der Kälte steif gewordenen Muskeln zu bewegen. Eine feine Schicht Neuschnee liegt auf unserer Schlittenspur vom Vortag, der wir nun auf dem Weg zurück folgen. Mit jedem Schritt wird der Körper wärmer, die Muskeln geschmeidiger, kehrt das Gefühl zurück in die Fingerspitzen. Der Himmel färbt sich von hellblau zu tiefblau, der Schnee vor uns zartrosa, von der über die Bergkette kletternden aufgehenden Sonne bereits angestrahlt. Wir sind bereits eine Stunde unterwegs, als wir sie erreichen, die Wärme auf unseren Gesichtern spüren, eine erste kurze Pause einlegen, um die Nasen in die Sonne zu recken, das Funkeln des Schnees zu genießen, diesen Morgen mit allen Sinnen einzuatmen. Wir lachen über unsere hundert Meter langen Schatten, die uns von nun an, immer kürzer werdend, begleiten werden auf dem Weg zurück ans Meer. Die Schatten der Pulkas türmen sich ebenfalls meterhoch, die des eigentlich nahezu gespannten Seils zwischen uns schlagen hohe Wellen. Unsere Karawane gibt ein lustiges Bild ab. Der Schnee unter unseren Füßen knirscht, wir alle haben ein Grinsen im Gesicht. Zurück gehts leicht bergab, entsprechend schnell sind wir unterwegs. Die uns überholenden Pulkas bremsen uns kurz aus, bis wir sie – nun auch mit dem Heck eingebunden ins Seil – wieder im Zaum halten. Schon bald sehen wir das Flugzeugwrack als orange leuchtenden Punkt am Horizont auftauchen, kurz darauf die auf der Eisfläche verstreuten blauen Fässer. Die Eisbergriesen auf dem Meer wachsen mit jedem Schritt, die vorgelagerte Insel Avian Island taucht auf, und kurz darauf entdecken wir die Masten und den in der Morgensonne rot leuchtenden Rumpf der Selma. Obwohl wir nur kurz unterwegs waren und die Zeit an Land sehr genossen haben, wird es einem bei diesem Anblick ganz warm ums Herz. Dort unten in dieser unendlichen Weite dieser grandiosen Landschaft liegt unser kleines Boot, unser Zuhause. Schon bald verändert sich das Eis, der Gletscher wird wieder schrundiger, die Station taucht auf und um kurz vor neun haben wir wieder felsigen, festen Boden unter den Füßen.
Kurz war unsere Gletscher Tour auf antarktischem Boden, aber beglückend und schön.
Wir bahnen uns wieder einen Weg hindurch zwischen Pelzrobben und Seeelefanten, bringen nach und nach alles wieder an die Pier. Die Selma hat derweil ihren Ankerplatz verlassen und kommt uns entgegen. Schon bald taucht Ewa mit dem Zodiac auf und wir verfrachten Fahrt für Fahrt alles zurück an Bord.
Ein wenig Zeit bleibt uns noch, die chilenische Base anzuschauen, durch die verlassenen Räume zu streifen. 2014/2015 wurde sie noch einmal genutzt. Vieles sieht so aus, wie gerade erst verlassen, als könne man Küche und Bar direkt wieder in Betrieb nehmen, Dart oder Billard spielen …Ski und Ausrüstung bräuchte man nur aus den Regalen zu nehmen, und im Büro des Commandante liegen noch aufgeschlagene Ordner auf dem Schreibtisch und die Vorräte an Scotch Tape und Pritt Stiften sind unangetastet. Eine unwirkliche Szenerie. Wieder vor der Tür glänzen die Eisberge draußen in der Bucht in der Sonne, Pelzrobben aalen sich auf den warmen Felsen – ein ziemlicher Kontrast zum herumliegenden Müll oder auch der unangetasteten endlosen weißen Weite des Morgens noch ein paar Stunden zuvor.
Wenig später sind wir wieder an Bord der Selma, zuhause sozusagen und freuen uns, den Rest der Crew zu treffen, tauschen bei einem Kaffee die Erlebnisse der letzten Stunden aus.
Wir verstauen all unsere Ausrüstung wieder in den Tiefen des Bootes, und dann, mit Einsetzen des Windes aus Süd, segeln wir weiter. Diesmal jedoch nicht nach Süden, sondern nach Norden.