Vernadsky Station II

Draußen faucht der Wind um die Masten der Selma und der Regen klopft aufs Dach des Steuerhauses – es herrscht schlicht Sauwetter. Wir haben uns gerade noch rechtzeitig wieder hier in den Argentine Islands in Vernadsky verkrochen, als der für die nächsten zwei Tage angesagte Sturm aus Nord am Montag Nachmittag heraufzog. Wie schon auf dem Weg nach Süden werden wir diesen hier geschützt abwettern.

Von Adelaide Island zurück nach Norden

Eigentlich sollte es um diese Jahreszeit eher schneien als regnen, es ist Herbst. Das war bereits die letzten Tage deutlich zu spüren. Auf dem Weg von der Südspitze Adelaide Islands hierher wurde es nach einem sonnigen Genuss-Tag mit bestem Wetter nach und nach kälter. Wir hatten es immer wieder mit viel Eis zu tun.

Eigentlich wollten wir auch Adelaide Island runden und auf der Westseite wieder nach Norden segeln. Doch auf dem Rückweg unserer Gletschertour haben wir von der Eiskappe aus zahlreiche große Eisberge und dicht gepackte Treibeisfelder vor der Westküste liegen sehen. Zusammen mit dem vorhergesagten stürmischen Wind aus SW keine optimalen Bedingungen, da wir bis Vernadsky in einem Schlag ohne Pause und damit auch zwei Nächte hindurch segeln wollten, um rechtzeitig anzukommen. Piotr hat daher entschieden, erneut den Weg auf der Ostseite von Adelaide Island zu nehmen, um nach Norden zurückzukehren. In den Kanälen wurde es teilweise schon richtig eng, mehr als einmal mussten wir umkehren, weil zu viel Eis die Durchfahrt unmöglich machte. Glücklicherweise gab es jeweils mit einem anderen Kanal eine Alternative. Auch die war eisgespickt. Aber mit ganz wenig Fahrt, viel Geduld, einem Ausguck auf dem Mast, viele Umdrehungen am Steuerrad und einer Person am Bug, die links und rechts das Eis am Bug der Selma vorbeizudrücken versuchte, sind wir – slowly slowly, step by step (Piotrs Herangehensweise in den allermeisten Situationen) – im Slalom durch die Eisfelder navigiert. In der Dunkelheit der Nacht waren wir einfach noch einen Tick vorsichtiger und im Schein unserer Bug Scheinwerfer unterwegs, unterstützt vom Radar und manchmal auch dem Mondlicht.

Waddington Bay, Rasmussen Point

Am Montag Morgen haben wir uns vor der Dämmerung gut 1,5 Stunden treiben lassen, bevor wir mit der Morgensonne Waddington Bay angelaufen sind. Auch hier war das Wasser bereits eisüberzogen. Kleinere Treibeisfelder und immer wieder Pfannkucheneis (dicht aneinander gepackte runde Eisflächen mit einem leicht erhabenem Rand, die aussehen wie große Pfannkuchen) begleiteten uns bis Rasmussen Island, wo wir vor Anker gingen. Wir wollten den sonnigen Vormittag und die Ruhe vor dem Sturm noch für einen Landgang nutzen. Mit dem Zodiac ging’s durchs Pfannkucheneis zur Insel. Ab und an mussten wir mit den Paddeln nachhelfen und das Eis brechen oder beiseite schieben.

Auf Rasmussen Island liegt ein Blauwal aus dem 12. Jahrhundert (!), beziehungsweise das, was von ihm übrig ist. Das war nach solch einer unvorstellbar langen Zeit eine ganze Menge: nicht nur das Skelett, auch Haut und Blubber sind teilweise erhalten. Aus dem riesigen Kieferknochen ragt ein armdickes Stück Nervenstrang, aussehend wie Holz, wie der Ast eines Baumes. Während wir schwer beeindruckt Wal und Eis bestaunten, nutze Ivan die Gelegenheit, um noch einmal fleißig Proben zu sammeln. Die Insel ist ein Paradies für ihn, immer wieder zieren üppige, saftig grüne Moospolster oder teils farbenfrohe Flechten die kargen Felsen.

Wir ließen Ivan Zeit, verholten die Selma und setzten mit dem Dinghi über nach Rasmussen Point. Unterwegs stoppten wir an einer großen, treibenden Eisscholle und enterten diese für einen kurzen Eisspaziergang. Am Rasmussen Point erwartete uns eine Kolonie Gentoo Pinguine. Diese waren über unsere Anlandung jedoch nicht sonderlich begeistert, so dass wir uns einen weniger dicht besiedelten Platz suchen mussten.

Einmal die Felsen hinauf geklettert hatten wir eine fantastische Aussicht. Eisberge, Pinguine, Skuas, üppiges Moosgrün, verlassene Pinguinnester … und eine kleine Schutzhütte der ehemals britischen Faraday Station. Der Blick auf den benachbarten Gletscher, seine riesige Front und Abbruchkante war gigantisch. Doch aus der Ferne zog aus Südwesten bereits dunkel die Front heran.

In den sicheren Hafen

Wir beeilten uns, zur Selma zu kommen, sammelten Ivan samt Material von der Insel ein und setzten Kurs auf die gut fünf Meilen entfernte Vernadsky Station. Das Wetter schlug binnen kürzester Zeit um, der Wind frischte auf knapp 30 Knoten auf, was die Fahrt durchs dichte Eis nicht einfacher machte. Der Blick durchs Fernglas vom Mast stimmte aber zuversichtlich: entlang der Küste der Argentine Islands ließ ein schmaler dunkler Streifen mehrheitlich offenes Wasser vermuten, was sich auch bewahrheitete.

Gerade rechtzeitig passierten wir die Station und erreichten die kleine Bucht, wo bereits eine andere Yacht, die Jonathan, gut vertäut lag.

Wir warfen den Anker und brachten unsere Landleinen aus, diesmal fünf, so dass wir eng an den Felsrand der Bucht geschmiegt im Windschatten zu liegen kamen. Stets gut beobachtet vom Hausherrn der Bucht: dem Seeleoparden. Zunächst spielte er interessiert zwischen Fels und Boot, tauchte auf und ab, rollte und drehte sich, schwamm unter der Selma hindurch, kam zurück und begann von vorn mit seinem Spiel. Irgendwann wurde das Dinghi zum Objekt seiner Begierde und er begann, Ewa und Voy zu verfolgen, rammte einmal das Boot, so dass Ewa sich vorsichtshalber mit einem Paddel bewaffnete.

Doch irgendwann waren alle Leinen ausgebracht und dichtgeholt, Selma lag ruhig und fest, das Dinghi wieder sicher an Deck. Und wir konnten endlich in Ruhe anstoßen auf all die Ereignisse der letzten Tage im Süden anstoßen: die Überschreitung des Südlichen Polarkreises, den südlichsten Punkt unserer Reise, die geglückte Land-Exkursion, darauf, dass das gemeinsame Leben und Miteinander an Bord noch immer wunderbar und ein Fest ist… Der Neptunia Hendricks Gin aus Ushuaia war dafür gerade richtig, und auch Neptun bekam seinen Schluck zum Dank.

Missgeschick I – Böse Überraschung

Ivan hatten wir bereits direkt nach unserer Ankunft glücklich samt seinen Kisten und Tüten voller Proben wieder bei der Station abgesetzt. Wir hatten den gesamten Abend gemütlich an Bord verbracht und waren froh, bei dem Sauwetter das Boot nicht verlassen zu müssen, so wie Piotr, der noch einen Sauna-Termin hatte.

Der Sturm war die ganze Nacht über deutlich zu spüren, rüttelte immer wieder an den Leinen, fauchte durch die Wanten, der Regen prasselte an Deck. Der nächste Morgen sah nicht viel besser aus. 40 Knoten Wind, grau und nass. Und der erste Blick aus dem Ruderhaus hielt noch eine weitere unschöne Überraschung für uns bereit: das Dinghi lag ziemlich platt im Wasser, die vordere Kammer schlapp und luftleer.

Offenbar hatte unser Nachbar, der Seeleopard, diesmal seine Spielfreude etwas übertrieben. Ob aus Frust darüber, dass das orangefarbene Ding nicht mit ihm spielen wollte, oder ob er vielleicht den Schluck für Neptun abgekriegt und nicht vertragen hat, wissen wir nicht. Nur dass Piotr, spätnachts aus der Sauna zurückkehrend, bei den heftigen Windböen das Dinghi nicht allein an Deck hieven konnte und keine helfenden Hände mitten in der Nacht aus dem Schlafsack holen wollte. So schnell kann’s gehen, wenn man einmal nicht aufpasst. Doch ärgern ändert nichts und hilft nicht weiter. Wir saßen das Missgeschick wegen des Mistwetters erst einmal aus, frühstückten in Ruhe, vertrödelten den Tag mit Lesen, Schreiben, Fotos sortieren …

Als sich um vier endlich der Dauerregen in ein sanftes Tröpfeln verwandelte, bargen wir das kaputte Dinghi. An Deck hängend offenbarte sich das Ausmaß des Schadens: an mehreren Stellen lief das eingedrungene Wasser heraus. Der Seeleopard hatte ganze Arbeit geleistet (oder das Dinghi erbitterten Widerstand, so dass er sich bemüßigt fühlte, ihm den Garaus zu machen): alle drei Kammern waren beschädigt und zeigten deutliche Spuren seiner scharfen Zähne – Löcher, Schlitze, Risse über Eck … Piotrs Urteil lautete angesichts des Alters und Gesamtzustandes Totalschaden. Was uns an diesem Tag den Transport zur Station und eine Reparatur ersparte. Wir zerlegten das Dinghi und verstauten alles in der Vorpiek, wo es für den Rest der Reise seine letzte Ruhestätte finden würde. Hievten das zweite, etwas kleinere Ersatz-Dinghi an Deck und machten es einsatzbereit. Der Bösewicht und Schadensverursacher ließ sich übrigens den ganzen Tag nicht ein einziges Mal blicken.

Missgeschick II

Der Tag geht bereits zur Neige, als wir endlich in zwei Etappen zur Station übersetzen und zum heiß ersehnten Wellness-Programm übergehen können. Der erste Teil huscht direkt unter die Dusche und danach in die Sauna. Teil zwei, zu dem auch ich gehöre, braucht noch etwas Geduld, da wir erst eine der Landleinen lösen und später wieder ausbringen müssen, um die Jonathan, die sich an einen anderen Platz verholen will, aus der Bucht zu lassen.

Danach ist das Dinghi frei und wir fahren zur Station. Dort angekommen vertreiben wir uns noch ein wenig die Zeit, sind eingeladen, trinken einen Wein in der Bar. Als der Rest uns über Funk anruft, dass wir rüber kommen können in die Sauna – wir würden einfach etwas mehr zusammen rücken und schon alle irgendwie hineinpassen – lassen wir uns das nicht zweimal sagen: Karen, Ursula und ich machen uns auf den Weg. Da das Dinghi bei der Selma ist, entscheiden wir uns der Einfachheit und Schnelligkeit wegen für den Landweg durch die Pinguinkolonie. Ivan drückt uns zwei große Wasserkanister in die Hand und meint, wir müssten nur das Schneefeld queren und dann über die Felsen kraxeln.

Das Licht der Sauna leuchtet verlockend zu uns hinüber. Die Pinguine weichen uns empört aus, einige haben es dabei so eilig, dass sie ausrutschen. Wenn sie sich dann schimpfend wieder aufrappeln und davon stolpern muss man einfach lachen. Doch das Lachen vergeht mir einen Augenblick später, als meine Füße plötzlich keinen Halt mehr finden. Der Schnee ist einer gefährlichen Mischung aus blankem Eis und vom Regen aufgeweichten Pinguin Guano gewichen, der die Sohlen meiner Gummistiefel nicht gewachsen sind. Ich rutsche aus und schlittere mit Schwung an Karen vorbei den Hang hinunter. An dessen Ende klatschen die Wellen ans Eis. Da will ich definitiv nicht landen und versuche mich irgendwo festzuhalten, aber nasses Eis und schlammige Pinguinnester erweisen sich als ziemlich ungeeignet. Meine Hose ist bereits völlig durchweicht. Am Ende ist es ein großer Haufen Guano, in dem meine Hände Halt finden. Ich komme irgendwie zum stehen, rapple mich auf, wieder auf die Füße. Meine Hose, meine Stiefel, mein Handtuch, meine Hände … alles ist total verschmiert. Auch Karen und Ursula bekommen ein paar ordentliche Spritzer ab, als ich meine Hände schüttelnd vom gröbsten Dreck befreien zu versuche. Mit einem grinsenden „Du siehst aber beschissen aus!“ und viel Gelächter werden wir an der Sauna empfangen. Das kommt davon, wenn man stolpernde Pinguine auslacht …

Ich rieche wie eine ganze Pinguinkolonie, ziehe die Klamotten aus, wasche alles grob aus – mit mittlerem Erfolg. Doch egal. Erst mal quetschen wir uns alle in die heiße Sauna, lachen uns kaputt über dieses Missgeschick (das sicher des Öfteren passiert) und genießen die Hitze und im Anschluss das prickelnde Bad im eiskalten Ozean. Den Rückweg trete ich später gezwungenermaßen in Unterhose, Gummistiefeln und meiner halbwegs verschont gebliebenen Segeljacke an, diesmal lieber mit einem Umweg über den felsigen Teil der Kolonie. In der Station folgt eine gründliche Wäsche: ich springe unter die Dusche, die Klamotten wandern in die Waschmaschine, wir in die Bar. Als wir später mit dem Dinghi den Heimweg auf die Selma antreten, sind die Klamotten wieder sauber und duften nach Ariel statt nach Pinguin.

Abschied

Am nächsten Morgen heißt es Abschied nehmen. Wir wollen weiter, unser Kurs zeigt nach Norden. Ivan wird noch weitere vier Wochen hier bleiben, bevor im April die Belegschaft wechselt und er wie die meisten der Stationsmitglieder die Heimreise antreten wird.

Es ist ein emotionaler, etwas wehmütiger Abschied. Wir alle stehen an Deck, als die Selma an der Station, am kleinen Holzpier vorbeigeleitet, auf dem Ivan steht und uns zuwinkt, noch schnell ein paar Abschiedsgrüße hin- und hergerufen werden. Ich bin sehr gerührt in diesem Moment und habe tatsächlich feuchte Augen. Obwohl wir hier nur zweimal für je zwei Tage vor Anker lagen, ist es so, als würde man gute, sehr vertraute Freunde zurücklassen. Vernadsky war während dieser Tage wie ein kleines Zuhause für uns, ein Ort, an dem wir warm und herzlich empfangen und umsorgt wurden. An dem wir geschützt und sicher lagen, während draußen zwei Stürme durchzogen. Ein Ort, an dem wir ganz besondere Menschen in einer ganz besonderen Zeit kennenlernen durften. Die zu verlassen, zurückzulassen schwer fällt, da wir alle in eine ungewisse, aber besonders sie und ihre Familien in eine schwierige Zukunft blicken. Unsere Gedanken sind bei ihnen, auch wenn sich unsere Wege nun wieder trennen. Wir sind sehr dankbar, dass sie sich gekreuzt haben. Danke Vernadsky!

Eine neue Woche beginnt!

Montagmorgen um halb vier Uhr…

Bin am Anziehen für die Wache, da höre ich wie der Motor abgestellt wird. Gerhard, Alan und Piotr, unser Skipper, kommen runter in den Salon. Keine Wache?

Doch, aber weil wir im Eisfeld sitzen und auch der Weg in die Bucht voll Eis ist, ist die Weiterfahrt im Dunkeln nicht optimal.

So werden wir driften und warten bis es hell ist.

Ich soll Piotr nach fünf Uhr wecken, er wird dann die Lage neu beurteilen.

Nun sitze ich an Deck und halte alleine Wache. Es ist bitterkalt. Aber mit meinen drei Schichten gut auszuhalten.

Gegenüber ein Licht nahe des Ufers, ein Cruiser vor Anker? Die Selma schaukelt sanft hin und her, der Mond und tausende Sterne leuchten am Himmel. So friedlich und ruhig ist die Nacht.

Kleine Eisbrocken ziehen knisternd vorbei. Ab und zu klatscht eine Welle leise an die Bordwand, sonst herrscht Stille.

Bei Minustemperaturen ohne Handschuhe zu schreiben ist doch etwas kalt. Ich wärme meine Hände an der noch heißen Teetasse. Ein Pinguin ruft von der nahe gelegenen Insel. Dann wieder Stille.

Da höre ich ein Schnaufen! Ein Wal? Nein, es ist ein Robbe, welche neugierig ihren Kopf aus dem Wasser hebt. Wir schauen uns in die Augen. Dann taucht sie, mit einem kurzen Blick zurück, wieder ab. Eine Möwe fliegt schreiend über mich. Dann ist es wieder ruhig.

Die Venus leuchtet hell am östlichen Himmel, der Morgen erwacht – die ersten Berggipfel werden von der Sonne, welche noch nicht sichtbar ist, angestrahlt.

Ich wecke Piotr. Sein Schlafplatz ist im Pilothouse, so hat er alle Navigationssysteme in Sichtweite.

Er schaut aufs iPad (die Seekarte), ein kurzer Blick aus dem Fenster. Alles ok!, obwohl die Insel für mich ziemlich nahe gerückt ist…..

Er gönnt sich nochmals eine Stunde Schlaf, das heißt, ich soll ihn um sechs wieder wecken.

Kurz vor sechs, sehe ich ein Segelboot auf uns zukommen, die Yacht zieht langsam an uns vorbei. Die vierköpfige Crew, dick eingepackt, grüßt mich freundlich. Das Tuckern des Motors löst sich im Rufen der Pinguine, welche den Tag begrüßen, auf.

Ich wecke Piotr und Unda, meine heutige Wach-Partnerin, auf.

Piotr stärkt sich noch mit einem Kaffee und schon geht die Fahrt los. Unda und ich kämpfen uns mit Selma durchs Eis. Ich am Steuer und Unda mit dem Stick am Bug, um die Eisschollen, welche wir nicht umfahren können, wegzudrücken.

Um 08.05 Uhr sind wir nahe der kleinen Insel Rasmussen Island angekommen – unsere Schicht ist zu Ende.

Ein neuer Tag ist erwacht! Er wird uns aufs Neue mit vielen unvergesslichen und spannenden Momenten beglücken. Dafür bin ich sehr dankbar.

P.S.

Ja, dieser Tag hat ganz speziell für mich angefangen – mein Handy hat sich neu positioniert und hat seit heute Morgen um 08.15 Uhr folgende neue Koordinaten: 65°14´41“ S 064°15´31“W, Tiefe 134 Meter

Nacht

Was macht ihr eigentlich nachts?

Diese Frage haben wir schon des öfteren gestellt bekommen.

Die Antwort darauf ist dieselbe, wie auf fast alle Fragen, die sich hier an Bord und auch sonst im Leben stellen: „It depends“ – Es kommt ganz darauf an.

Keine Nacht gleicht der anderen. Es gibt ruhige und unruhige Nächte. Stille, laute. Silbrige, dunkle, finstere. Gemütliche und äußerst ungemütliche. Nächte, in denen wir vor Anker liegen – ob am Meeresgrund oder einem Eisberg – oder beigedreht driften. Und es gibt andere, in denen wir unterwegs sind.

Rotlicht-Viertel

Was alle Nächte eint: nachts wird die Selma zum Rotlicht-Viertel. Alles Weißlicht wird gelöscht, nur noch wenige gedimmte, rote Lampen tauchen Salon und Kombüse in warmes Rotlicht. Alle Instrumente und auch die Stirnlampen derer, die auf oder unter Deck unterwegs sind, leuchten rot. Rot deshalb, weil es nicht blendet. Weil es die Nacht Nacht sein lässt. Weil wir nachts darauf angewiesen sind, trotz Dunkelheit sehen zu können, unsere Umgebung wahrzunehmen, Eis rechtzeitig zu erkennen und Eisbergen ausweichen zu können. Das menschliche Auge braucht lange, um sich an die Dunkelheit anzupassen, zu gewöhnen. Wenn es mal soweit ist, sieht man erstaunlich gut, wenn auch nur schemenhaft. Ein einziger heller Lichtstrahl macht diese Adaption jedoch zunichte und den Sehenden für eine ganze Weile wieder nachtblind. Und auch für die Schlafenden ist es natürlich angenehmer, wenn Dunkelheit herrscht.

Dass alle an Bord schlafen, kommt allerdings nicht vor.

Das Wachsystem hat auch nachts Bestand – egal, ob unterwegs oder vor Anker. Denn man kann nie wissen, was kommt. Die Verhältnisse können sich schnell ändern.

Ankerwache

Vor Anker liegend oder beigedreht driftend, hält mindestens eine Person Ankerwache, wacht über die Selma und den Schlaf der Anderen. Hat den Anker im Blick, beobachtet das Eis ringsherum. Manchmal sind dies wunderbar stille Stunden, allein mit der Welt. Das Wasser gurgelt die Bordwand entlang, das leise Knistern des Eises ist zu hören oder irgendwo kracht es in einem Gletscher. Manchmal hört man den Blas eines Wals oder das gleichmäßige Gerufe einer benachbarten Pinguinkolonie. Der Wind singt in den Wanten, die Masten der Selma schaukeln unterm Sternenhimmel, der vertraute Orion liegt in Horizontnähe, das Kreuz des Südens krönt das Firmament, ab und an lässt sich der Mond blicken und taucht Meer, Eis und Gletscher in ein silbriges Licht. Der eine genießt es, dann warm eingepackt allein an Deck zu sitzen, die Gedanken schweifen zu lassen oder die Erlebnisse des Tages zu verarbeiten und in die Nacht zu lauschen. Andere wiederum wärmen sich zwischendurch auf im Ruderhaus oder sitzen unten im Salon, nutzen die stillen Stunden zum Lesen oder Schreiben und kommen nur ab und an für einen Kontrollblick an Deck. Die Nacht hält zauberhafte Momente bereit: wenn sich um den Mond ein kreisrunder Halo zeigt, in unmittelbarer Nähe das schnaufende Atmen eines schlafenden Wals zu hören ist oder man das Glück hat, dem neuen Tag beim Aufwachen zuzuschauen, wenn sich das erste Morgengrauen erst in zartes Pastell hüllt und später in glühendes, fließendes Gold verwandelt.

Aber die Nacht kann auch anstrengend sein. Wenn wir nicht so gut geschützt liegen, Wind und Welle an der Ankerkette zerren und ruckeln, die Selma im Schwell rollt, alles knarrt und ächzt, immer wieder der Ankeralarm anschlägt. Wenn das Eis durch Strömung, Wind, Tide hinein in unsere Bucht drückt oder in Richtung Selma driftet. Dann gilt es, Kollisionen zu verhindern. Mit der langen Stange übers Deck zu sprinten, von links nach rechts und vorn nach hinten … die Eisschollen, Growler und kleineren Eisberge (Bergy Bits) in ihre Schranken zu weisen und an der Selma vorbei zu schieben. Möglichst rechtzeitig, so dass sie nicht die Bordwand entlang Schrammen, die Ankerkette blockieren oder das Ruder beschädigen. Das braucht Kraft und kann ziemlich schweißtreibend sein. Das Eis hat seine eigene Dynamik, die Strömungen sind stark und mitunter wechselhaft. Nicht selten kommt der ganze Schwung Eis, den man gerade vom Bug Richtung Heck vorbei gelotst hat nach einer Weile aus ebendieser Richtung wieder zurück getrieben, und das Spiel geht von Neuem los. Bei größeren Eisbergen, die mit Muskelkraft nicht mehr zu bewegen sind, wird kurz der Skipper geweckt, der Motor angeworfen und mit Hilfe von Mr. Perkins ausgewichen oder Platz geschaffen. Piotr schläft im Ruderhaus und ist im Ernstfall in wenigen Augenblicken einsatzbereit. Wenn der Anker ausreißt, muss er eingeholt und erneut gesetzt werden – aber das ist bisher glücklicherweise nicht passiert. Nur einmal haben wir ihn ein zweites Mal setzen müssen.

Unterwegs in Eis und Finsternis

In anderen Nächten sind wir unterwegs. Sind noch auf der Suche nach einem geschützten Ankerplatz oder Segeln oder Motoren durch die Nacht – je nach Wind und Eis. Teilen uns zu zweit vier Stunden Wache. Abwechselnd übernimmt einer das Ruder, der andere starrt in die Dunkelheit, stets wachsam nach Eis schauend. Oder aufs Radar, wenn das Dunkel undurchdringlich, das Wetter zu wüst wird oder das Eis zu dicht. Dann hilft es zu schauen, ob sich auf dem Radarschirm irgendwo eine Lücke auftut. Manchmal ist auch kein Durchkommen, die Barriere zu dicht. Und wir müssen umdrehen und nach einem anderen Weg suchen oder einen Haken schlagen. Dann steht einer am Bug, weist die Richtung an oder macht den Weg mit der Stange frei. So haben wir uns schon manches Mal durch Eis und Finsternis getastet, vorsichtig und konzentriert. Manchmal unterstützt vom Licht einer starken Lampe oder der zwischenzeitlich installierten Leuchten am Bug (das einzig erlaubte weiße Licht). Und bisher haben wir stets einen Weg gefunden.

Und zwischendurch gibt es immer wieder eine gute und sich kümmernde Seele, die sich um das Wohl und den Energiehaushalt der Wachhabenden kümmert. Die ein zweites, trockenes Paar Handschuhe bringt, heißen Tee kocht oder Kaffee. Einem ein Stück Schokolade in den Mund schiebt oder einen Keks bringt. Und es gibt Piotr, der mitten in der Nacht im Rotlicht der Kombüse steht und gut gelaunt leckere überbackene Toasts in der Pfanne zaubert. So übersteht man selbst die längste, kälteste und anstrengendste Nachtwache, übergibt das Steuer an den Nächsten, der pünktlich bereit steht und klettert danach erschöpft und müde, aber zufrieden und glücklich in die Koje. Und tut zumindest für ein paar Stunden das, was die meisten Menschen in der Nacht tun: schlafen und – manchmal – träumen.

Gletschertour

Seit fast einem Monat sind wir nun unterwegs. Weit im Süden angekommen. Und bereit für unsere geplante Tour an Land. Große Vorfreude für das fünfköpfige Mountaineering Team, bestehend aus Alan, Jan, Karen, Piotr und mir. Schließlich haben wir alles Equipment dafür mitgenommen, vorbereitet und in Puerto Williams und Vernadsky getestet.

Leider meint es der Wettergott diesmal nicht ganz so gut mit uns – er gönnt uns nur ein kurzes geeignetes Wetterfenster. Eigentlich wollten wir drei Tage an Land unterwegs sein, um auf das Plateau des Festlands der Antarktischen Halbinsel aufzusteigen. Nun mussten wir unsere Pläne ändern: statt der Eiskappe des Festlands wird es die von Adelaide Island, statt der geplanten drei Tage haben wir einen Tag und eine Nacht bis zum nächsten Vormittag Zeit. Das ist schade, doch wir sind und bleiben flexibel und ergreifen glücklich die Chancen, die sich uns bieten.

Aufbruch

Früh am Morgen des 1. März haben wir vor Leonie Islands den Anker gelichtet. Der Rest der Crew übernimmt liebenswerterweise unsere Wachen und das Frühstück, so dass wir uns um unser Equipment kümmern können. Es ist immer wieder erstaunlich, wie viel Platz und Stauraum so ein Boot bietet. Wir wühlen uns durch Schränke, Schapps, unter Bänke und in die Zwischenräume zwischen Salonwand und Bordwand und füllen binnen kürzester Zeit den Salon mit unseren Sachen: Hochtourenequipment (Seile, Gurte, Helme, Karabiner, Eisäxte, Steigeisen und Co), Zelte, Isomatten, Schlafsäcke, Kocher, Töpfe, Essen, Reserveklamotten und Notfallequipment … stapeln sich, werden sortiert und in den Rucksäcken und Schlitten-Packsäcken verstaut. Der Rest der Crew ergreift angesichts des von uns verbreiteten Chaos die Flucht an Deck oder ins Steuerhaus.

Dass die Selma währenddessen die Südostspitze von Adelaide Island nahe Cape Alexandra im Woodfield Channel und damit auch den südlichsten Punkt unserer Reise auf 67 47´ 700´´ S und 068 46´ 003´´ W passiert, verpassen wir dabei.

Gegen zehn erreichen wir unseren geplanten Ausgangspunkt, die ehemalige chilenische Station Teniente Carvajal an der Südwestspitze der Insel. Unzählige Eisberge und ein nahezu geschlossener Teppich aus großen und kleinen treibenden Eisstücken, crushed ice, liegen vor der Küste und wir bahnen uns langsam und knirschend einen Weg hindurch. Es beginnt zu schneien, der Wind bläst ungemütlich. Während der Anker fällt, holen wir die Pulkas und die Schneeschuhe aus der Vorpiek und das gesamte Equipment an Deck. In mehreren Etappen wird alles mit dem Zodiac an Land gebracht und auf die alte, von Wind und Wetter zerbröselnde Pier der Station gehievt.

Die Station ist seit Jahren verlassen. Mehrere Gebäude verwahrlosen hier im rauen antarktischen Klima vor sich hin, Unmengen an Müll, ehemaligem Baumaterial und Schutt liegen herum. Dazwischen ebenfalls Unmengen an Pelzrobben, die das Areal in Beschlag genommen haben und genauso wie die Skuas ihr Küken vehement ihr Territorium verteidigen, durch das wir uns samt unserer Ausrüstung einen Weg zu bahnen versuchen. In einem der offen stehenden Gebäude tauschen wir die Gummistiefel gegen Bergschuhe und lassen unsere Segelklamotten zurück. Wir suchen uns einen Weg zum Gletscherrand hinter der Station und bringen – erneut in Etappen – Pulkas, Packsäcke und Rucksäcke zum Startpunkt, im Zick-Zack zwischen umherliegendem Müll, glitschigen Felsen, neugierigen Pinguinen, fauchenden Pelzrobben, im Sturzflug attackierenden Skuas und schlafenden Seeelefanten. Nach einer gefühlten Ewigkeit seit unserer Landung – mittlerweile ist es Mittag – sind Gurte und Steigeisen angelegt, Rucksäcke und Helme aufgesetzt, alle in die Seilschaft eingebunden, die Pulkas um die Hüften geschnallt und wir endlich startklar. Die übrige Crew winkt zum Abschied und wir laufen los.

Aufstieg auf den Gletscher

Im unteren Bereich ist der Gletscher aper, das Eis liegt blank. Es dauert eine Weile, bis sich unsere Fünfer-Seilschaft zurecht ruckelt und ein gemeinsames Tempo findet. Alan führt, es geht zunächst den Gletscher hinauf auf die Eiskappe – das Fuchs Ice Piedmont. Nach einer halben Stunde treffen wir auf das Wrack eines Flugzeugs im Eis, Überreste einer abgestürzten chilenischen Twin Otter. Auf dem Eis liegen unzählige Fässer mit Treibstoff herum, der Blick zurück geht über die Bucht und Avian Island, vor uns liegt nichts als Weiß, links der von Eisbergen gesprenkelte Ozean, rechts begrenzen die wolkenverhangenen Berge der Princess Royal Range unser Sichtfeld. Es hat aufgehört zu schneien. Die nächsten Stunden bestehen einfach nur aus Gehen, Schritt für Schritt die sanft ansteigende Eiskappe hinauf. Mal mehr, mal weniger gleichmäßig finden wir irgendwann unseren Rhythmus. Es gibt nur wenige, schneebedeckte Spalten, die parallel zu unserer Laufrichtung verlaufen. Ein Schatten oder minimal eingesackter Schnee lassen sie meist erahnen. Zwei-, dreimal sacken wir ein, jedoch nur bis zum Knie. Der als Ziel avisierte Nunatak vor der Bergkette kommt nur langsam näher, auch hier halten uns die Entfernungen zum Narren, täuschen eine Nähe vor, die trügt. Das Grau des Himmels wird dunkler und dunkler. Die scharf gezogene Linie zwischen Eisfläche und Himmel, der Kontrast zwischen beidem sieht wunderschön aus. Mit der Zeit kommt ein Wolkenband hinzu, welches sich vom Meer her in unsere Richtung bewegt.

Gegen fünf, nach dreieinhalb Stunden beschließen wir, unser Lager aufzubauen. Der Nunatak und die Berge sind deutlich näher gerückt, aber noch nicht erreicht. Aber wir müssen am nächsten Morgen zurück, wollen spätestens um zehn wieder auf der Selma sein, bevor der Wind auf Süd dreht und das Eis weiter in die Bucht drückt.

Camp auf dem Eis

Wir prüfen das Gelände um das Camp auf Spalten, bauen die beiden Zelte auf, fixieren alles windsicher mit Schneestangen, Stöcken, Eisäxten … binden die Pulkas fest. Schnee wird geschmolzen und hungrig genießen wir vor den Zelten unser dreigängiges Menü aus dehydriertem Trekking Essen direkt aus der Tüte: vegetarische Pasta Bolognese, Creamy Pasta Alfredo und zum krönenden Abschluss Mousse au Chocolat. Satt und zufrieden vermissen wir den vergessenen Whisky oder Rum nur ein bisschen.

Es ist trotz warmer Daunenjacken empfindlich kalt geworden, die vom Meer heranziehenden Wolken haben uns erreicht und binnen weniger Minuten hüllen sie uns vollständig ein. Whiteout. Und Zeit, sich in die Zelte zu verkriechen, diese zwei kleinen gelben Punkte im großen, unendlich scheinenden weißen Universum um uns herum. Während wir es uns drinnen gemütlich machen, beginnt es draußen zu schneien. Es dauert ein wenig, bis uns warm wird – die drei Männer nebenan haben es wahrscheinlich kuscheliger als Karen und ich. Wir lauschen noch ein wenig gemeinsam den auf die Zeltwand rieselnden Schneekristallen und der antarktischen Stille, bis von nebenan leises Schnarchen herüber dringt und auch wir irgendwann einschlafen.

Acht Stunden ungestörter Schlaf liegen vor uns: keine Wache, kein Manöver, kein Eisberg, kein Ankeralarm … richtig genießen kann ich diese jedoch nicht. Es ist ein unruhiger Schlaf, zu oft werde ich wach. Auch der Rücken findet acht Stunden liegen ungewohnt lang und das Aufwachen morgens um vier daher gar nicht so schlimm. Wenn man nur nicht aus dem warmen Schlafsack müsste! Wir zögern dies maximal hinaus, schmelzen im roten Licht der Stirnlampen erstmal den am Abend im Vorzelt deponierten Schnee, löffeln warmes Müsli aus der Tüte. Erst danach schälen wir uns aus dem Schlafsack in die Klamotten und Schuhe, die – nachts unter den Kniekehlen unterm Schlafsack deponiert – halbwegs erträglich warm geblieben sind. Am Morgen bin ich froh um den vielen Platz zu zweit im Zelt, die drei nebenan haben’s da enger.

Der erste Blick aus dem Zelt entschädigt für das frühe Aufstehen und die Überwindung, sich aus dem warmen Schlafsack zu pellen. Es ist klar, der Mond steht noch am pastellfarbenen Himmel. Die Linie der Bergkette messerscharf, darüber ein paar Schleierwolken, zartrosa, wie gemalt. Der frische Schnee hat alles blütenweiß überzuckert, das Meer in der Ferne stahlblau, es wirkt wie zugefroren. Und im Osten färbt der nahende Tag den Himmel bereits golden. Ich kann mich kaum satt sehen, doch die Luft ist klirrend kalt. Nach und nach kommt Bewegung auch ins Nachbarzelt, einer nach dem anderen schält sich hinaus in den antarktischen Morgen.

Zurück ans Meer

Wir packen zusammen, bauen die Zelte ab, beladen die Pulkas, machen uns startklar. Ziehen zunächst alles an, was wir haben, um der Kälte zu trotzen. Das Anziehen der Steigeisen ist zwar einfacher ohne Handschuhe, aber es dauert lange, bis die Finger hinterher wieder warm werden. Es tut gut, endlich loszulaufen, die in der Kälte steif gewordenen Muskeln zu bewegen. Eine feine Schicht Neuschnee liegt auf unserer Schlittenspur vom Vortag, der wir nun auf dem Weg zurück folgen. Mit jedem Schritt wird der Körper wärmer, die Muskeln geschmeidiger, kehrt das Gefühl zurück in die Fingerspitzen. Der Himmel färbt sich von hellblau zu tiefblau, der Schnee vor uns zartrosa, von der über die Bergkette kletternden aufgehenden Sonne bereits angestrahlt. Wir sind bereits eine Stunde unterwegs, als wir sie erreichen, die Wärme auf unseren Gesichtern spüren, eine erste kurze Pause einlegen, um die Nasen in die Sonne zu recken, das Funkeln des Schnees zu genießen, diesen Morgen mit allen Sinnen einzuatmen. Wir lachen über unsere hundert Meter langen Schatten, die uns von nun an, immer kürzer werdend, begleiten werden auf dem Weg zurück ans Meer. Die Schatten der Pulkas türmen sich ebenfalls meterhoch, die des eigentlich nahezu gespannten Seils zwischen uns schlagen hohe Wellen. Unsere Karawane gibt ein lustiges Bild ab. Der Schnee unter unseren Füßen knirscht, wir alle haben ein Grinsen im Gesicht. Zurück gehts leicht bergab, entsprechend schnell sind wir unterwegs. Die uns überholenden Pulkas bremsen uns kurz aus, bis wir sie – nun auch mit dem Heck eingebunden ins Seil – wieder im Zaum halten. Schon bald sehen wir das Flugzeugwrack als orange leuchtenden Punkt am Horizont auftauchen, kurz darauf die auf der Eisfläche verstreuten blauen Fässer. Die Eisbergriesen auf dem Meer wachsen mit jedem Schritt, die vorgelagerte Insel Avian Island taucht auf, und kurz darauf entdecken wir die Masten und den in der Morgensonne rot leuchtenden Rumpf der Selma. Obwohl wir nur kurz unterwegs waren und die Zeit an Land sehr genossen haben, wird es einem bei diesem Anblick ganz warm ums Herz. Dort unten in dieser unendlichen Weite dieser grandiosen Landschaft liegt unser kleines Boot, unser Zuhause. Schon bald verändert sich das Eis, der Gletscher wird wieder schrundiger, die Station taucht auf und um kurz vor neun haben wir wieder felsigen, festen Boden unter den Füßen.

Kurz war unsere Gletscher Tour auf antarktischem Boden, aber beglückend und schön.

Wir bahnen uns wieder einen Weg hindurch zwischen Pelzrobben und Seeelefanten, bringen nach und nach alles wieder an die Pier. Die Selma hat derweil ihren Ankerplatz verlassen und kommt uns entgegen. Schon bald taucht Ewa mit dem Zodiac auf und wir verfrachten Fahrt für Fahrt alles zurück an Bord.

Ein wenig Zeit bleibt uns noch, die chilenische Base anzuschauen, durch die verlassenen Räume zu streifen. 2014/2015 wurde sie noch einmal genutzt. Vieles sieht so aus, wie gerade erst verlassen, als könne man Küche und Bar direkt wieder in Betrieb nehmen, Dart oder Billard spielen …Ski und Ausrüstung bräuchte man nur aus den Regalen zu nehmen, und im Büro des Commandante liegen noch aufgeschlagene Ordner auf dem Schreibtisch und die Vorräte an Scotch Tape und Pritt Stiften sind unangetastet. Eine unwirkliche Szenerie. Wieder vor der Tür glänzen die Eisberge draußen in der Bucht in der Sonne, Pelzrobben aalen sich auf den warmen Felsen – ein ziemlicher Kontrast zum herumliegenden Müll oder auch der unangetasteten endlosen weißen Weite des Morgens noch ein paar Stunden zuvor.

Wenig später sind wir wieder an Bord der Selma, zuhause sozusagen und freuen uns, den Rest der Crew zu treffen, tauschen bei einem Kaffee die Erlebnisse der letzten Stunden aus.

Wir verstauen all unsere Ausrüstung wieder in den Tiefen des Bootes, und dann, mit Einsetzen des Windes aus Süd, segeln wir weiter. Diesmal jedoch nicht nach Süden, sondern nach Norden.

Adelaide Island – Landausflug

Am 1. März brachen wir früh zum südlichen Ende der Insel Adelaide und zur chilenischen Basis Teniente Carvajal auf. Diese – ehemals britische, dann an Chile verkaufte – Basis wurde seit dem Winter 2014-15 nicht mehr genutzt. Aufgrund von dichtem Treibeis, Wellengang und Wind mussten wir uns einen Weg zum den Ankerplatz bahnen. Unterwegs, auf dem Weg dorthin, erreichten wir auch den südlichsten Punkt unserer Reise bei 67 47.700 S. Das ist zwar kein nennenswerter Rekord im Allgemeinen, aber einer für die meisten von uns.

Während wir unterwegs waren, bereitete sich das Mountaineering Team auf den geplanten Landausflug vor. Aufgrund der Wettervorhersage entschieden wir uns für eine Tour auf Adelaide Island. Und auch nur für kurze Exkursion für eine Nacht statt der ursprünglich geplanten 2 oder 3 Tage.

Wir packten unsere gesamte Ausrüstung für die Gletschertour, Übernachtung und Essen aus. Zelte, Isomatten, Schlafsäcke, Kocher, Brennstoff und Essen. Nach dem Ankern landeten wir, fuhren das gesamte Equipment in mehreren Fahrten mit dem Zodiac auf die Insel. Wir fanden ein offenes Gebäude auf der Basis, in dem wir unsere Gummistiefel und Schlechtwetterkleidung verstauen konnten und suchten uns einen Ausgangspunkt am Gletscher. Wir liefen an mehreren Gruppen von Pelzrobben vorbei, wurden von ihre Küken schützenden Skuas angeschrien und mit Sturzflügen attackiert, schleppten unsere Ausrüstung an einer Gruppe von riesigen faulenzenden Seeelefanten vorbei und erreichten schließlich den Fuß des Gletschers, der Eiskappe von Adelaide Island: Fuchs Ice Piedmont, Hier schnallten wir endlich unsere Gurte, Steigeisen und Schlitten an.

Wir zogen die Schlitten über den gefrorenen Gletscher bergan und hielten, um die Überreste einer abgestürzten Twin Otter zu begutachten. Jede Menge leere Treibstofffässer lagen auf dem Eis. Die Landschaft wurde immer einsamer und eintöniger, während wir uns Schritt für Schritt zu einem Nunatak (Fels / Berg, der aus dem Eisfeld herausragt) vorarbeiteten.

Wir liefen zu fünft in einer Seilschaft mit Alan an der Spitze. Angeseilt zu sein ist eine Lektion in Geduld, Ausdauer und Wahrnehmung. Der Grund, warum wir angeseilt waren, war der Schutz vor unsichtbaren Gletscherspalten. Wenn eine Person in eine Gletscherspalte stürzt, hängt die Fallhöhe davon ab, wie viel Spielraum zwischen dem Stürzenden und der nächsten Person besteht. Deshalb ist es wichtig, dass das Seil zwischen den Personen möglichst wenig durchhängt. In der Theorie einfach, aber in der Praxis schwierig.

Glücklicherweise waren die Gletscherspalten nicht sehr breit, und wenn jemand in eine Gletscherspalte trat (Gletscherspalten waren mit Schnee bedeckt), rutschten wir glücklicherweise nur bis zum Knie hinein. Man geht möglichst immer im gleichen Tempo, hält an, wenn jemand seine Ausrüstung anpassen muss (meist muss ein Steigeisen nachgezogen werden). Wenn der Hintermann zu langsam / weit hinten geht, zieht es am eigenen Gurt, wenn er zu schnell geht, stolpert man über das lose, schlappende Seil. Manchmal hat man das Gefühl, dass man gleichzeitig vorwärts und rückwärts gezogen wird. All dies muss durch Kommunikation reguliert werden, sonst wird es zu einem nervtötenden, miserablen Spaziergang. Für die Sicherheit des Teams und die eigene Verantwortung ist es wichtig, jederzeit aufmerksam zu sein!

Die Aussicht wurde immer großartiger, je höher wir auf dem Gletscher aufstiegen. Eisberge im Süden und Westen, so weit wir sehen konnten. Weiße Berge, die sich von der grauen, stimmungsvollen See abheben. Es ist eine schwarz-weiß-graue Welt …

Nach 3,5 Stunden Wanderung, gegen fünf, beschlossen wir, unser Lager aufzuschlagen. Unser Zeitfenster war kurz, am nächsten Morgen wollten wir gegen 10 Uhr zurück auf der Selma sein, bevor der Wind auf Süd drehen und das ganze Eis an die Küste drücken würde. Unsere Ziele hatte sich während der gesamten Reise verändert, weiterentwickelt und wir praktizierten maximale Flexibilität. Wir wollten das nehmen, was uns zur Verfügung stand, was möglich war. Wir wollten unterwegs sein, die Abgeschiedenheit genießen, uns für einige Zeit vom Boot lösen, die Umgebung auf uns wirken lassen und uns dafür begeistern. In diesem Sinne haben wir unser Ziel erreicht.

Als wir unser Lager aus zwei Zelten aufschlugen, begann sich der Himmel zu verändern. Von hohen Wolken mit wenig Wind begannen die Wolken, sich auf die Küstenlinie zuzubewegen, die nun gut fünf Meilen hinter uns lag. Da wir uns am äußersten Ende der Insel befanden, war die Hälfte unserer Sicht auf das Wasser gerichtet, die andere Hälfte auf die Berge.

Als die Wolken rasch näher kamen, hatten wir das Gefühl, von ihnen verschlungen zu werden. Als wir mit dem Abendessen fertig waren, war die Sicht fast überall gleich null, wohin wir blickten, war alles rein weiß. Der Horizont verschwand, während der Himmel und das Plateau, der Schnee eins wurden. Whiteout.

Wir krochen gegen halb acht in unsere Zelte und freuten uns auf einen langen Schlaf. Acht Stunden am Stück – mehr als üblicherweise an Bord. Leichter Schneefall setzte ein, die Schneekristalle knisterten auf der Zeltwand, die Temperatur lag irgendwo um die minus 5 bis minus 10 Grad, wir gemütlich in unseren Schlafsäcken. Den meisten von uns blieb ein wirklich erholsamer Schlaf versagt, wir waren oft wach… aber Piotr (der Kapitän) schlief tief und fest.

Um 4.00 Uhr morgens ging es los, die roten Strinlampen erleuchteten das Vorzelt, und die Schneeschmelze für das Frühstück und das Wasser für den Rückweg begann sofort. Wir aßen in unseren jeweiligen Zelten und kamen dann einer nach dem anderen heraus, um die Aussicht zu genießen. Es war klirrend kalt. Der Himmel hatte sich aufgeklart, das Meer in der Ferne sah aus wie zugefroren, war es aber nicht, die Berge waren klar und deutlich. Bis zum Sonnenaufgang würden noch ein, zwei Stunden vergehen. Wir bauten die Zelte ab, verstauten alles auf den Pulkas und machten uns auf den Rückweg vom Plateau. Es fiel ein wenig leichter, da wir nun bergab gingen. Nach einer Stunde kam die Sonne über den Berg, tauchte die weiße Landschaft in warmes Licht, wärmte unsere Gesichter… riesige Schatten wanderten neben uns her. Irgendwann kam die Bucht ins Blickfeld, später das Flugzeugwrack und dann tauchte auch die Selma auf, rot leuchtend in der Morgensonne, ankernd vor Avian Island. Gegen halb neun erreichten wir den Gletscherrand, schnallten Pulkas und Steigeisen ab und hatten wieder felsigen Boden unter den Füßen.

Nachdem wir uns einen Weg zwischen Pelzrobben, Seeelefanten und Skuas gebahnt und unsere Ausrüstung zum Abholpunkt geschleppt hatten, verbrachten wir einige Zeit damit, uns in der verlassenen Chilenischen Basis umzusehen. Der Stützpunkt bot Platz für bis zu 32 Personen und war früher recht groß. Die Briten verkauften die Basis 2003 an Chile. Jetzt dient sie als Zufluchtsort für Seeleute oder anderes Stützpunktpersonal, das sie bei Bedarf nutzen kann (der britische Stützpunkt Rothera ist ein paar Seestunden entfernt).

Während die Berggruppe unterwegs war, ankerte Selma und der Rest der Crew hinter Avian Island. Sie verstauten die Kajaks wieder unter Deck, entspannten sich und genossen Platz an Bord und die Zeit für sich.

Als wir wieder an Bord und alle beisammen waren, setzten wir unseren Kurs nach Norden. Wir fuhren erneut die Ostseite von Adelaide Island hinauf (wir wollten eigentlich außen auf der Westseite der Insel nach Norden, mussten diesen Plan aber wegen der Wettervorhersage und des vielen Eises verwerfen). Bei schönem Sonnenschein und ruhigem Wasser bahnten wir uns unseren Weg durch viele vereiste Gebiete. Dank guter Sicht konnten wir so die Landschaften sehen, die uns auf dem Weg nach Süden wolkenverhangen entgangen waren.

Die Tierwelt ist nach wie vor üppig und vielfältig, Wale werden etwa stündlich gesichtet. Wir stoppten und beobachteten mehrere Buckelwale beim Fressen, die sich nicht allzu sehr an unserer Anwesenheit störten, aber auch nicht zu nahe kamen. Robben auf den vorbei treibenden Eisschollen: Weddellrobben, Pelzrobben, Leopardenrobben und jetzt auch Krabbenfresserrobben. Antarktische Seeschwalben, Skuas, Dominikanermöwen, Kormorane – sie alle erheben sich in die Lüfte und schweben über dem Meer.

Wir waren auf dem Weg zurück, nordwärts. Fuhren über Nacht weiter, nutzten das Eislicht am Bug und bahnten uns langsam unseren Weg, teils durch enge Kanäle, die fast mit Treibeis und Eisbergen verstopft waren. Pfannkucheneis bedeckt nun öfter das Wasser, die Temperaturen bewegen sich um den Gefrierpunkt. Es wird Herbst. Wir segeln durch die gleiche Gegend, aber jetzt in anderer Kulisse.