Was macht ihr eigentlich nachts?
Diese Frage haben wir schon des öfteren gestellt bekommen.
Die Antwort darauf ist dieselbe, wie auf fast alle Fragen, die sich hier an Bord und auch sonst im Leben stellen: „It depends“ – Es kommt ganz darauf an.
Keine Nacht gleicht der anderen. Es gibt ruhige und unruhige Nächte. Stille, laute. Silbrige, dunkle, finstere. Gemütliche und äußerst ungemütliche. Nächte, in denen wir vor Anker liegen – ob am Meeresgrund oder einem Eisberg – oder beigedreht driften. Und es gibt andere, in denen wir unterwegs sind.
Rotlicht-Viertel
Was alle Nächte eint: nachts wird die Selma zum Rotlicht-Viertel. Alles Weißlicht wird gelöscht, nur noch wenige gedimmte, rote Lampen tauchen Salon und Kombüse in warmes Rotlicht. Alle Instrumente und auch die Stirnlampen derer, die auf oder unter Deck unterwegs sind, leuchten rot. Rot deshalb, weil es nicht blendet. Weil es die Nacht Nacht sein lässt. Weil wir nachts darauf angewiesen sind, trotz Dunkelheit sehen zu können, unsere Umgebung wahrzunehmen, Eis rechtzeitig zu erkennen und Eisbergen ausweichen zu können. Das menschliche Auge braucht lange, um sich an die Dunkelheit anzupassen, zu gewöhnen. Wenn es mal soweit ist, sieht man erstaunlich gut, wenn auch nur schemenhaft. Ein einziger heller Lichtstrahl macht diese Adaption jedoch zunichte und den Sehenden für eine ganze Weile wieder nachtblind. Und auch für die Schlafenden ist es natürlich angenehmer, wenn Dunkelheit herrscht.
Dass alle an Bord schlafen, kommt allerdings nicht vor.
Das Wachsystem hat auch nachts Bestand – egal, ob unterwegs oder vor Anker. Denn man kann nie wissen, was kommt. Die Verhältnisse können sich schnell ändern.
Ankerwache
Vor Anker liegend oder beigedreht driftend, hält mindestens eine Person Ankerwache, wacht über die Selma und den Schlaf der Anderen. Hat den Anker im Blick, beobachtet das Eis ringsherum. Manchmal sind dies wunderbar stille Stunden, allein mit der Welt. Das Wasser gurgelt die Bordwand entlang, das leise Knistern des Eises ist zu hören oder irgendwo kracht es in einem Gletscher. Manchmal hört man den Blas eines Wals oder das gleichmäßige Gerufe einer benachbarten Pinguinkolonie. Der Wind singt in den Wanten, die Masten der Selma schaukeln unterm Sternenhimmel, der vertraute Orion liegt in Horizontnähe, das Kreuz des Südens krönt das Firmament, ab und an lässt sich der Mond blicken und taucht Meer, Eis und Gletscher in ein silbriges Licht. Der eine genießt es, dann warm eingepackt allein an Deck zu sitzen, die Gedanken schweifen zu lassen oder die Erlebnisse des Tages zu verarbeiten und in die Nacht zu lauschen. Andere wiederum wärmen sich zwischendurch auf im Ruderhaus oder sitzen unten im Salon, nutzen die stillen Stunden zum Lesen oder Schreiben und kommen nur ab und an für einen Kontrollblick an Deck. Die Nacht hält zauberhafte Momente bereit: wenn sich um den Mond ein kreisrunder Halo zeigt, in unmittelbarer Nähe das schnaufende Atmen eines schlafenden Wals zu hören ist oder man das Glück hat, dem neuen Tag beim Aufwachen zuzuschauen, wenn sich das erste Morgengrauen erst in zartes Pastell hüllt und später in glühendes, fließendes Gold verwandelt.
Aber die Nacht kann auch anstrengend sein. Wenn wir nicht so gut geschützt liegen, Wind und Welle an der Ankerkette zerren und ruckeln, die Selma im Schwell rollt, alles knarrt und ächzt, immer wieder der Ankeralarm anschlägt. Wenn das Eis durch Strömung, Wind, Tide hinein in unsere Bucht drückt oder in Richtung Selma driftet. Dann gilt es, Kollisionen zu verhindern. Mit der langen Stange übers Deck zu sprinten, von links nach rechts und vorn nach hinten … die Eisschollen, Growler und kleineren Eisberge (Bergy Bits) in ihre Schranken zu weisen und an der Selma vorbei zu schieben. Möglichst rechtzeitig, so dass sie nicht die Bordwand entlang Schrammen, die Ankerkette blockieren oder das Ruder beschädigen. Das braucht Kraft und kann ziemlich schweißtreibend sein. Das Eis hat seine eigene Dynamik, die Strömungen sind stark und mitunter wechselhaft. Nicht selten kommt der ganze Schwung Eis, den man gerade vom Bug Richtung Heck vorbei gelotst hat nach einer Weile aus ebendieser Richtung wieder zurück getrieben, und das Spiel geht von Neuem los. Bei größeren Eisbergen, die mit Muskelkraft nicht mehr zu bewegen sind, wird kurz der Skipper geweckt, der Motor angeworfen und mit Hilfe von Mr. Perkins ausgewichen oder Platz geschaffen. Piotr schläft im Ruderhaus und ist im Ernstfall in wenigen Augenblicken einsatzbereit. Wenn der Anker ausreißt, muss er eingeholt und erneut gesetzt werden – aber das ist bisher glücklicherweise nicht passiert. Nur einmal haben wir ihn ein zweites Mal setzen müssen.
Unterwegs in Eis und Finsternis
In anderen Nächten sind wir unterwegs. Sind noch auf der Suche nach einem geschützten Ankerplatz oder Segeln oder Motoren durch die Nacht – je nach Wind und Eis. Teilen uns zu zweit vier Stunden Wache. Abwechselnd übernimmt einer das Ruder, der andere starrt in die Dunkelheit, stets wachsam nach Eis schauend. Oder aufs Radar, wenn das Dunkel undurchdringlich, das Wetter zu wüst wird oder das Eis zu dicht. Dann hilft es zu schauen, ob sich auf dem Radarschirm irgendwo eine Lücke auftut. Manchmal ist auch kein Durchkommen, die Barriere zu dicht. Und wir müssen umdrehen und nach einem anderen Weg suchen oder einen Haken schlagen. Dann steht einer am Bug, weist die Richtung an oder macht den Weg mit der Stange frei. So haben wir uns schon manches Mal durch Eis und Finsternis getastet, vorsichtig und konzentriert. Manchmal unterstützt vom Licht einer starken Lampe oder der zwischenzeitlich installierten Leuchten am Bug (das einzig erlaubte weiße Licht). Und bisher haben wir stets einen Weg gefunden.
Und zwischendurch gibt es immer wieder eine gute und sich kümmernde Seele, die sich um das Wohl und den Energiehaushalt der Wachhabenden kümmert. Die ein zweites, trockenes Paar Handschuhe bringt, heißen Tee kocht oder Kaffee. Einem ein Stück Schokolade in den Mund schiebt oder einen Keks bringt. Und es gibt Piotr, der mitten in der Nacht im Rotlicht der Kombüse steht und gut gelaunt leckere überbackene Toasts in der Pfanne zaubert. So übersteht man selbst die längste, kälteste und anstrengendste Nachtwache, übergibt das Steuer an den Nächsten, der pünktlich bereit steht und klettert danach erschöpft und müde, aber zufrieden und glücklich in die Koje. Und tut zumindest für ein paar Stunden das, was die meisten Menschen in der Nacht tun: schlafen und – manchmal – träumen.