Es ist 3 Uhr morgens. Ich stehe allein draußen an Deck. Die Nacht umhüllt mich, schemenhaft erkenne ich die Umrisse der Landschaft, ganz leicht grau, kaum zu erahnen, hebt sich das Eis vom schwarzen Wasser ab, am Horizont das klitzekleine, goldene Funkeln des ersten Morgengrauens.
Es ist ruhig und es herrscht totale Stille. Fast. Ab und an gurgelt das Wasser am Rumpf der Selma entlang, ich höre das leise sizzling des Eises, das Geräusch der entweichenden Luft, ein feines Knistern. Und irgendwo da draußen, ganz in der Nähe, in Richtung des mit jeder Minute größer werdenden Lichtstreifs am Horizont höre ich ab und an das Atmen eines Wals. Wahrscheinlich schläft er und driftet im ruhigen Wasser, genau wie wir mit der Selma. Eins mit dem Wasser, dem Universum. Vollkommener Friede umgibt uns.
Doch das kann sich schnell ändern, deshalb bin ich hier draußen. Ich wache über den Schlaf der anderen, beobachte das treibende Eis, welches mit uns zwischen Seymour Island und Cockburn Island auf der Ostseite von James-Ross Island driftet. Und wenn es uns zu nahe kommt, dann kommt die lange Stange zum Einsatz und ich weise das Eis in seine Schranken. Bei kleineren Schollen und Growlern geht das, wenn ein größerer Eisberg zu nahe kommt, wecke ich Piotr und wir werfen den Motor an. Doch es bleibt ruhig, der Skipper leise schnarchend in seiner Koje, der Motor aus.
Eine Nacht frei driften, statt irgendwo zu Ankern. Sich einfach treiben lassen. Vom Segeln auf offener See kenne ich das, hier im Weddell Meer nahe der Ross Insel hätte ich dies nicht unbedingt erwartet. Doch die Verhältnisse gestern abend sprachen dafür: ruhiges Wetter, kaum Wind, zwischen den beiden Inseln das Wasser zu tief zum Ankern, aber halbwegs eisfrei, die beiden Küstenlinien jedoch voller Treibeis, teilweise dichtes Pack, Eisberge und Schollen in jeder Größe. Die uns – vor der Küste oder in einer Bucht ankernd – des nachts immer wieder nahe und gefährlich werden hätten können. Da ist die Drift-Variante zumindest jene, die die ruhigste Nacht verspricht. Dies ist schon die zweite – zumindest für mich und die meisten von uns – ungewöhnliche und neue Version eines Ankermanövers binnen zweier Tage.
Bereits gestern war Selmas Schlafplatz speziell. Wie der gesamte gestrige Tag, der besonders war.
Tags zuvor
Es ist fast ein wenig surreal. Wir sind in der Antarktis. Im Weddell Meer. Haben Ross Island bereits halb gerundet und sind sehr weit im Süden für hiesige Verhältnisse auf der Ostseite der Peninsula. Eigentlich ist dies keine Gegend für ein Schiff, schon gar nicht für kleines Segelboot. Nur äußerst selten wagt sich eins hierher, wer weiß, ob überhaupt schon mal eins hier war? Selbst Expeditionskreuzfahrer sind hier in der Regel nicht anzutreffen. Zu oft ist das Meer auf der Ostseite der Antarktischen Halbinsel von dichtem Packeis bedeckt, undurchdringlich auch im Sommer. Wir haben jedoch – schließlich sind wir auf Expedition und voller Entdeckerlust – die Gelegenheit und die günstigen Bedingungen genutzt und die Umrundung von James Ross Island gewagt, uns bis hierher irgendwie durch sämtliche Eisbarrieren hindurch gemogelt. Und gleiten nun die Südküste von Snow Hill Island, südöstlich von James Ross Island entlang. Auf 64 Grad 35 Minuten Süd.
Snow Hill Island. Ein geschichtsträchtiger Ort in der Polarhistorie. Der schwedische Polarforscher und Geologe Otto Nordenskjöld überwinterte gleich zweimal (1902 geplant und freiwillig, im Jahr darauf gezwungenermaßen) auf der Nordseite der Insel im Laufe seiner schwedischen Antarktisexpedition mit der Antarctica (1901-1904). Seine Hütte steht noch heute, auch wir wollen ihr wenn möglich einen Besuch abstatten.
Heute sind die Bedingungen das Gegenteil eines antarktischen Winters, auch den antarktischen Spätsommer haben wir anders erwartet. Die Sonne scheint. Der Himmel ist tiefblau. Es weht kein Lüftchen, nur der Fahrtwind bringt ein klein wenig Leben in die kleine (noch immer chilenische) Flagge am Mast. Es ist alles andere als rau, kalt, wild … an Deck tummelt sich ausnahmsweise ein Großteil der Crew, die Nasen werden in die wärmende Sonne gereckt, Sonnencreme dick aufgetragen, Alan spielt leise Gitarre: Lou Reeds „What a Perfect day“. Nichts passt in diesem Moment besser. Man könnte sich durchaus in wärmeren Gefilden wähnen, nur die Aussicht auf die vorbeiziehende Landschaft erinnert daran, dass wir in der Antarktis sind.
Die Schelfeiskante von Snow Hill Island an Backbord, sind wir auf der Suche nach der hiesigen Kaiserpinguin Kolonie, der nördlichsten der Antarktis. Doch weit und breit sind keine Pinguine, ist kaum Leben in Sicht. Zwei einzelne Robben aalten sich auf vorbeiziehenden Schollen, ab und an eine Küstenseeschwalbe, sonst nichts als blau und weiß. Snow Hill Island ist, besser hätte die Namensgebung nicht ausfallen können, fast gänzlich von einer sanft gerundeten Eiskappe überzogen, die sich zu fast allen Seiten der Küste als hohe Schelfeiskante Kante ins Meer ergießt. Wahrscheinlich sind die Pinguine schon wieder unterwegs, oder weiter im Süden, im Packeis.
Meine zweite Wache heute ist vorbei. Entspannt war’s am Steuer die letzten vier Stunden, nur ein bisschen Slalom ums Weiß im Blau. Viel Eis und kein Wind bedeutet leider auch viel Motor und keine Segel.
Heute Morgen war der Himmel wieder in zartes Pastell getaucht. Die Selma schwoite um den Eisberg, den wir am Abend zuvor als Anker benutzt haben, mangels Alternativen. Das Wasser zu tief, die gesamte Küste eine mehrere Meter hohe Schelfeiskante. Da kam uns der festsitzende Koloss gerade recht. Mit Hilfe des Dinghis haben wir eine 250 m lange Schwimmleine (zweimal 125 m) ausgebracht, einmal um den Eisberg gelegt und am Bug der Selma auf zwei Klampen belegt. Ganz langsam ist die Selma des nachts mit leichtem Wind oder Strömung mal in Richtung Schelfeiskante und heute Morgen einmal im Uhrzeigersinn um den Eisberg gedriftet. Dann ist es an der Eiswache einzugreifen und uns mit der langen Stange vom Eis abzustoßen und wieder ausreichend sicheren Raum zu verschaffen. Das klappt bei ruhigen Bedingungen erstaunlich gut, am Morgen waren die beiden Leinen halbwegs schnell wieder eingeholt und wir startklar in diesen Tag. Der uns rund Süd von Snow Hill Island und dann wieder Kurs nordwärts der Umrundung von James Ross Island hoffentlich ein Stück näher bringt.
Ein perfekter Tag, der einem bereits perfekten Tag folgte und vermutlich weitere Tage zur Folge hat, die sich für uns einfach nur perfekt anfühlen.