Weiter nach Süden

Vor zwei Tagen sind wir aufgebrochen von Vernadsky. Die Pause tat uns gut, doch nun wollen wir weiter. Für die meisten Antarktis-Reisenden ist spätestens hier auf Höhe der Ukrainischen Station oder sogar etwas nördlich nach der Durchfahrt des Lemaire Channel, bei Petermann Island Schluss, der südlichste Punkt erreicht und Zeit umzukehren. Nicht jedoch für uns. Wir haben Zeit und Lust, weiter nach Süden vorzudringen. Adelaide Island heißt unser Ziel.

Über den Polarkreis nach Süden

Zum einen bieten sich dort eventuell einige Möglichkeiten für das Mountaineering Team, sich ein paar Tage an Land auszutoben. Zum anderen haben wir Ivan mit an Bord genommen, Biologe aus Vernadsky. Und für diesen ist unser Weg nach Süden eine seltene und wunderbare Möglichkeit, seiner Leidenschaft und Wissenschaft – der Erforschung von antarktischen Pflanzen, insbesondere Moosen – nachzugehen und unterwegs an ausgewählten Orten Proben zu sammeln.

Wir wollen möglichst schnell Richtung Süden in die Marguerite Bay zwischen Adelaide Island und Peninsula / Festland. Das Wetter zeigt sich nicht gerade von seiner besten Seite: es ist trüb, grau und nass. Dazu 30 Knoten Wind, das Wasser – fast schwarz – ist mit kleinen weißen Schaumkrönchen und zahlreichen Eisbergen und Bergy Bits gespickt. Nach vier Stunden blickt man dennoch meist in lachende Gesichter der vor Nässe triefenden Wachhabenden. Das Wetter macht uns auch das Ankern am Abend nicht gerade leicht, ein erster Versuch bei Marie Island scheitert am für den Platz zu starken Wind aus zu falscher Richtung, andere Optionen müssen wir aufgrund zu großer Tiefe verwerfen. So segeln wir weitere zwei Stunden südwärts, bis dann endlich nahe Cape Bellue in einer Bucht der Anker fällt und hält.

Es ist weiter nass und grau, als wir am Mittwoch gegen zehn Uhr den südlichen Polarkreis auf 66 Grad 33´ 55´´ überschreiten. Ein Grund, die Flasche Rum auszupacken und anzustoßen. So eng war’s noch nie im Ruderhaus. Meine Wache hat gerade begonnen, und so habe ich das Glück und die Ehre, während dieses besonderen Ereignisses am Steuer zu stehen, aber auch ich kriege ein Glas in die Hand gedrückt und teile meinen Rum mit Neptun.

Das Grau bleibt uns auch südlich des Polarkreises erhalten, gepaart mit ordentlich Welle aber auch ausreichend Wind, und wir können für gut vier Stunden die Segel setzen, bis wir den Norden von Adelaide Island erreichen. Wir halten uns entlang des Festlands, passieren die Isacke Passage, Hanusse Bay und den engen Gunnel Channel östlich von Hansen Island. Die Wolken hängen tief, das wenige, was wir von der Landschaft entlang von Hinks und Lawrence Channel erhaschen können, ist eisig und vergletschert. Der Wind aus Nordost frischt auf knapp 40 Knoten auf, die Suche nach einem Ankerplatz für die Nacht gestaltet sich erneut nicht ganz leicht, doch wir finden eine kleine Bucht. Die Einfahrt ist kaum erkennbar, Eisberge sitzen auf einer vorgelagerten Moräne fest. Erst im zweiten Versuch hält der Anker, wir haben 80 Meter Kette gesteckt.

Die Nacht wird leider extrem unruhig. Ständig treibt Eis durch die kleine Bucht, erst hinein, dann wieder hinaus, die bei der Ankunft festsitzenden Eisberge sind dank der Tide ebenfalls wieder unterwegs. Die Ankerwache hat extrem viel zu tun, die Selma davon halbwegs freizuhalten. Immerhin haben wir Unterstützung vom Mondlicht. Auch der Anker zerrt an der Kette, der Alarm springt mehrfach an, nicht nur einmal denken wir, jetzt reißt er aus. Dies bewahrheitet sich glücklicherweise nicht, dennoch findet kaum jemand an Bord wirklich Schlaf, und nach einer kurzen Nacht brechen wir früh wieder auf, bevor noch mehr Eis in die Bucht treibt und die Ausfahrt versperrt.

Um vier gibts einen Kaffee, um fünf im Morgengrauen wird der Anker gelichtet. Am Vormittag kommt die Britische Station Rothera in Sicht. Alan war vor einigen Jahren hier als Field Guide und funkt die Station an. Leider erhalten wir trotz dieses vermeintlichen Bonus keine Genehmigung, die Base anzulaufen.

Leonie Islands

In der Ryder Bay setzen wir Ivan auf Leonie Island ab. Während er dort nach Moosen sucht, ankern wir vor Lagoon Island und setzen mit dem Zodiac über. Rothera bittet uns über Funk, nach Anzeichen für das Vogelgrippe Virus Ausschau zu halten. Beim Betreten der Insel riecht es ziemlich übel nach Verwesung. Fünf noch nicht allzu lang tote Skuas liegen in einem engen Bereich um eine kleine Lagune. Dies könnte ein Zeichen für das Virus sein, es sind Altvögel, allesamt ohne erkennbare äußere Verletzungen. Doch als Grund für den üblen Geruch machen wir wenig später eine größere Gruppe Seeelefanten aus, die hier faul, dösend und verdauend liegen. Ein großer Haufen eng aneinander geschmiegter, riesiger, brauner Leiber. Daraus erhebt sich ab und an mal niesend oder rülpsend kurz ein Kopf, schaut uns Störenfriede mit riesigen Kulleraugen an, um unmittelbar danach wieder in die kuschelige Enge der anderen abzutauchen. Oder eine Flosse wird ausgestreckt, um Bauch oder Rücken zu kraulen. Herrlich, dieser Ruhe und Gemütlichkeit zuzuschauen, die nur gestört wird, wenn eines der Tiere meint, sich umdrehen zu wollen, worauf sich die Nachbarn zunächst prustend beschweren, um dann wieder langsam ihre schwerfälligen Körper zurecht zu ruckeln. Schwerfällig sind sie allerdings nur an Land – im Wasser bewegen sich die massigen Tiere erstaunlich elegant und schnell. Das beweist uns ein Exemplar, welches urplötzlich direkt vor uns auftaucht, während wir am Ufer auf das Zodiac warten, um vor Schreck über unsere Anwesenheit unmittelbar darauf wieder abzutauchen und schnell das Weite zu suchen.

Kajakausflug

Wir beschließen, hier die Nacht zu verbringen. Deshalb haben wir noch Zeit für einen Ausflug rund um die Inseln. Ein Teil wählt das Zodiac. Unda, Gerhard, Karen und ich brechen mit drei Kajaks auf. Wir erpaddeln uns ein paar schöne Eisberge und türkisblaue Eisschollen und entdecken eine kleine Bucht, in der wir Pinguine, Weddellrobben und Seeelephanten aus nächster Nähe beobachten können. Doch sie nehmen keine Notiz von uns. Als wir gerade wieder Richtung Selma zurück wollen, entdeckt Karen drei Wale, die offenbar in unsere Richtung unterwegs sind. Erst am Vortag erzählte mir Unda noch von ihrem Wunsch, mit dem Kajak Walen zu begegnen. Mit ihnen zu Paddeln. Auf Augenhöhe sozusagen. Und nun folgte genau das. Eine Stunde Wale Watching vom Feinsten. Die Kurslinien der Wale und unserer Kajaks kreuzten sich im richtigen Augenblick, und wir erlebten einen der wunderbarsten und bewegendsten Momente dieser Reise. Aber davon hat Unda bereits so schön geschrieben.

Die Begegnung mit diesen drei Buckelwalen, besonders der Moment, in dem einer von ihnen genau am Bug unseres Kajaks empor und unmittelbar vor meinen Füßen und neben uns auftauchte, sein Kopf, der riesige Körper, schwarzglänzend, zum Greifen nah … das war im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend schön.

Wir waren merkwürdigerweise weder erschrocken, noch hatten wir Angst – dazu war einfach gar keine Zeit. Aber es dauerte einen Moment, bis wir wieder zu atmen wagten, wirklich begriffen, was da gerade eben geschehen war, welches unfassbare Glück wir hatten, dass sich der Wunsch von Unda auf so wunderbare Weise erfüllte.

Auch Ivan, den wir am Abend auf Leonie Island wieder abholten, war glücklich über seine Ausbeute: die vielen Proben an Moosen, Flechten, Gräsern. Eigentlich war uns nach diesem Tag zum Feiern zumute. Aber ein kleines Glas Wein muss an diesem Abend reichen, denn am nächsten Morgen wollen wir wieder ganz früh den Anker lichten und aufbrechen. Zur Südspitze von Adelaide Island, wo wir endlich zur lang ersehnten Mountaineering Tour starten wollen.

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