Am nächsten Morgen lichten wir um fünf Uhr früh den Anker und setzen Kurs auf die South Shetlands. Circa 100 Meilen sind es bis Deception Island. Wir haben null Wind, es ist grau, das Wasser spiegelglatt.
Wie bereits auf dem Weg nach Süden begegnen wir in der Gerlache Strait erneut vielen Walen. Wer weiß, vielleicht sind ja die vier vom Abend zuvor auch darunter?
Während Peters und meiner Wache am Abend klart es auf, haben wir endlich ausreichend Wind und können in der Abendsonne die Segel setzen. Mr. Perkins hat Pause, wir ein breites Grinsen im Gesicht. Die Nacht ist klar, der Sternenhimmel gigantisch, die Milchstraße spannt sich in großem Bogen über uns auf, selbst die beiden Magellanschen Wolken sind zu erkennen.
In der Finsternis passieren wir gegen Mitternacht die schmale Einfahrt – Neptuns Blasebalg genannt – nach Deception Island. Links markiert ein Leuchtfeuer die nur wenige hundert Meter breite Passage, rechts ragt der Schatten einer steilen Felswand aus der Dunkelheit auf. Um eins fällt unser Anker in der Telephone Bay.
Deception Island ist eine Vulkaninsel, Gipfelbereich eines über die Meeresoberfläche hinausragenden, eingebrochenen Vulkankraters. Eine nahezu – bis auf eine schmale Einfahrt – geschlossene, fast kreisrunde, vom Meer geflutete Caldera mit einem Durchmesser von ca. 6 Meilen. Der Vulkan ist noch aktiv, der letzte Ausbruch (1970) liegt jedoch schon gut 50 Jahre zurück. Bei einem Ausbruch 1967 wurden eine englische und zwei chilenische Forschungsstationen schwer beschädigt und in der Folge aufgegeben.
Zwischen 1912 und 1931 wurde in der Whalers Bay die südlichste Trankocherei der Welt betrieben. Die Überreste dieser norwegischen Walfangstation, sowie Reste der aufgegebenen britischen Forschungsstation B lassen sich noch heute besichtigen.
Am Samstag Morgen tauchen Nebel und Sonne alles in ein mystisches Licht. Viel sehen wir nicht von der Insel – nur einen schwarzen Streifen Strand der Bucht in der wir ruhig und geschützt vor Anker liegen. Der silbrig-graue Schleier scheint sich ein wenig zu lichten, und so entscheiden wir uns am Vormittag für einen kleinen Spaziergang auf die Hügel rund um die Telephone Bay. Am Strand empfangen uns zwei einzelne Weddellrobben im schwarzen, feinen Vulkansand. Die Landschaft wirkt düster und unwirtlich, besteht – zumindest in diesem Teil der Insel – aus mehrheitlich schwarzem vulkanischen Gestein und Geröll. Wir erklimmen eine Hügelkette und freuen uns über anderthalb Stunden Bewegung in dieser leblos wirkenden Mondlandschaft. Leider bleibt der Rest der Insel geheimnisvoll im Nebel verschluckt.
Für den Vormittag hatte sich ein Kreuzfahrtschiff in der Whalers Bay angemeldet. Zu sehen bekommen wir es nicht, über Funk aber mit, dass es sich wieder auf den Weg macht, durch Neptuns Blasebalg – der immer nur von einem Schiff gleichzeitig passiert werden kann. Am Nachmittag haben wir somit den Hot Spot Whalers Bay für uns allein.
Zurück auf der Selma verholen wir uns in die knapp 6 Meilen entfernte Whalers Bay, ankern und nehmen uns Zeit für einen ausführlichen Landgang. Alle schwärmen aus, manch einer für sich allein, andere in Gruppen. Anfangs noch im Nebel schafft es die Sonne dann glücklicherweise irgendwann, die weißen Schwaden lichten sich und geben den Blick frei auf die unzähligen Überbleibsel aus Walfangzeiten und Gebäudereste der aufgegebenen britischen Forschungsstation.
Zahlreiche Pelzrobben bevölkern den schwarzen Strand. Viele lümmeln faul herum, andere sind in kleine Rangeleien untereinander verwickelt. Offenbar geht es meist darum, wer auf welchem Stück Sand zu liegen kommt. Einige wenige Pinguine sind ebenfalls am Wasser unterwegs. Ich treffe ein lustiges Pärchen aus einem Gentoo und einem Chinstrap Pinguin (Eselspinguin und Zügelpinguin) in einträchtiger Zweisamkeit beim Strandspaziergang.
Ich selbst erklimme zuerst eine kleine Anhöhe hinauf zu einer Scharte zwischen steil aufragenden Kliffs – oben angekommen weitet sich der Blick durch Neptuns Window hinaus auf den weiten Ozean. Tief unten rollt eine kräftige Dünung heran, zerschellt an den Klippen, liegen jede Menge Robben in kleinen Buchten.
Im Sand der Whalers Bay verstreut, teilweise durch Vulkanasche bedeckt, entdeckt man hölzerne Trümmer und Überreste ehemaliger Gebäude, Baracken, Wasserboote … einige wenige Walknochen, ein ehemaliges Schwimmdock …
In den sich lichtenden Nebel mischt sich Wasserdampf entlang des Strandsaums. Heißes Wasser aus vulkanischem Boden mischt sich mit dem kalten Wasser des Kratersees, es riecht nach Schwefel. Taucht man die Hand hinein, ist es teilweise fast kochend heiß.
Die Umgebung hat etwas mystisches, morbides, wie von einem anderen Planeten. Im Hintergrund dieser wie eine Hexenküche anmutenden Szenerie rosten jede Menge riesige Tanks (Walöl, Treibstoff), Tranöfen, Kocher und andere teils sehr futuristisch anmutende Metall-Objekte vor sich hin. Ich komme mir vor wie in einem Jules Verne Film.
Alte, von Wind, Wetter und rauem Klima gebeutelte Gebäude verfallen vor sich hin, überall silbrig verwittertes Holz, hier und da besiedeln und erobern Flechten diesen neuen Lebensraum. Weit hinten zwei einzelne Holzkreuze, Überreste des von Asche verschütteten kleinen Friedhofes.
Leider (oder für Landschaft und Flora glücklicherweise) sind die umgebenden Hügel und Berge geschütztes Gebiet. Zu gern hätten wir sie erklommen, um auch von oben einen Blick auf die Bucht und den Kratersee zu werfen. Die Landschaft präsentiert sich hier zwar karg, aber für meinen Geschmack sehr farbenprächtig: ins schwarz und weiß von Vulkangestein und Gletschern mischen sich mancherorts lebendiges saftiges Grün (Flechten, Moose) und ein samtiges dunkles Rotschwarz – Stein oder Asche, das lässt sich aus der Ferne nicht sagen.
Es ist spannend und macht Spaß durch die Vergangenheit an diesem außergewöhnlichen Ort, diese ganz besondere Landschaft zu wandeln, die Zeit vergeht wie im Flug.
Zurück an Bord der Selma wechseln wir wieder an unseren bewährten Ankerplatz in die Telephone Bay. Nach einer weiteren ruhigen und sternklaren Nacht wollen wir am nächsten Morgen aufbrechen in Richtung Elephant Island.