Aufbruch

Bevor es wirklich losgehen kann, stehen noch ein paar Dinge auf dem Programm: eine letzte größere Einkaufstour, erneutes Verstauen desselben und des letzten angelieferten frischen Gemüses. Vor allem aber die Formalitäten samt Zoll und Emigration-Prozedere. Dazu müssen wir am Nachmittag alle persönlich im Immigration Office am Hafen erscheinen. Das Warten auf die fertigen Papiere zieht sich, einige nutzen die Zeit für ein kurzes Nickerchen. Doch irgendwann, nach einem letzten offiziellen Abgleich eines jeden einzelnen Gesichtes mit dem Foto im Pass, sind wir frei und dürfen Argentinien verlassen.

Von Argentinien nach Chile

Das Wetter zeigt sich erstmals ungemütlich, es regnet und es weht ein straffer Wind aus Ost. Piotr entscheidet, dass wir erst gegen Mitternacht auslaufen, mit hoffentlich nachlassendem Regen und auf West drehendem Wind.

Nach einem Abendessen verziehen sich alle in ihre Kojen, um noch ein paar Stunden Schlaf zu tanken. Und um zwei Uhr nachts ist es dann soweit. Das Geräusch des startenden Motors und das geschäftige Treiben an Deck weckt alle auf. Plötzlich sind wir unterwegs, die Lichter Ushuaias werden im Kielwasser langsam kleiner und kleiner. Auch wenn es nur ein erster kurzer Schlag bis nach Puerto Williams ist, haben wir nun die Leinen losgeworfen. Es ist ein emotionaler Moment. Jeder steht an Deck und ist in diesen Minuten ganz bei sich, in Gedanken versunken. Zwei Jahre, Wünsche und Träume verdichten sich in diesem einen Augenblick, und es sind nicht nur die Regentropfen, die mir über die Wangen laufen.

Piotr und Woitek steuern die Selma und uns durch die nasskalte erste Nacht, ich werde morgens gegen sechs vom leicht verändert klingenden Motorengeräusch wach. Oben an Deck empfängt mich blauer Himmel und Sonnenschein, die letzte Meile nach Puerto Williams und die Isla Navarinho liegt vor uns, hinter uns hat der Regen der Nacht die höheren Lagen der argentinischen Bergkette zauberhaft weiß gezuckert. Nach und nach kriecht der eine oder andere aus der Koje. Wir machen unweit der Micalvi neben zwei weiteren Booten an einer Mooring Boje fest und nach einem Kaffee hieven wir das Dinghi aus der Vorpiek an Deck und machen es startklar für den Landgang.

Auf die Emigration aus Argentinien folgt die Immigration in Chile – auch hier ist dies eine umfangreiche und zeitaufwändige Prozedur. Im Yachtclub Micalvi füllen wir die persönlichen Papiere aus, Piotr ist dann mit all unseren und den Schiffspapieren unterwegs. Gut eine Stunde später dürfen auch wieder persönlich vorstellig werden, damit die Übereinstimmung von Passfoto und Realität final von offizieller Seite überprüft werden können.

Vorbereitungen

Knapp eine Woche sind wir nun am Beagle Kanal, nach und nach sind alle Teammitglieder in Ushuaia eingetroffen, und seit Dienstag sind wir komplett.

Welch ein Glück und wie schön, dass tatsächlich alle gesund und gut hier gelandet sind, samt guter Laune und einer Menge Vorfreude im glücklicherweise vollständigen Reisegepäck.

Wir haben gemeinsam ein großes Apartment bezogen und von hier aus die Stadt und Umgebung erkundet.

Obwohl das bisher einzige gemeinsame Treffen der Crew in Berlin fast ein Jahr her ist, können wir nahtlos daran anknüpfen. Der erste Eindruck bestätigt sich: Die Chemie passt.

Die Tage vergehen wie im Flug.

Wir wandern gemeinsam durch flechtenüberzogenen Urwald, genießen fantastische Ausblicke auf den Beagle Kanal und Ushuaia, teilen uns riesige Platten Carne Asado, probieren Pisco Sour und patagonisches Bier. Entscheiden uns für einen Tagesausflug nach Osten, der zu einem wunderbaren Tag wird, an dem ein Erlebnis schöner als das andere wird.

Wir laden die nach einer monatelangen Odyssee endlich eingetroffene Unterwasserdrohne ins Auto – im Apartment ist mehr Platz als auf der Selma – um sie zu testen. Leider stellt sich nach dem Auspacken zahlreicher Kisten und Kartons heraus, dass ein Teil des Zubehörs nicht zum Modell der Drohne passt. Die zweite, schwenkbare Kamera und auch ein Greifer, um Sedimentproben oder Ähnliches vom Meeresboden zu pflücken, werden wir leider nicht verwenden können. Aber nach einigem puzzeln, diversen Downloads und Updates ist zumindest der Rover einsatzbereit. Ein letzter Test im Wasser steht noch aus.

Wir bringen Unmengen Proviant aufs Schiff und verstauen alles, thematisch sortiert an Bord: Gemüse, Obst in der kühlen Vorpiek, Fleisch in der vom kalten Wasser umspülten Bilge, alles andere in den Tiefen der Selma, unter Bänken, Tisch und Bodenbrettern, zwischen Lehnen und der Bordwand, in Schränken, Schapps und Schubladen. Den Überblick zu behalten, was wo verstaut ist, fällt nicht leicht, aber es lässt sich mit Gewissheit sagen, dass wir selbst bei doppelter Reisezeit nicht darben müssen.

Das Mountaineering Team (Alan, Karen, Jan, Christiane and Piotr) checkt einen ersten Teil des Equipments – die Pulka-Schlitten werden vorbereitet, die beiden Zelte aufgebaut und auf Vollständigkeit geprüft – der stramm wehende Wind am Hafen gibt uns einen klitzekleinen Vorgeschmack und etwas Übung für schwierigere Bedingungen.

Am Donnerstag Abend bringen wir all unser Gepäck an Bord und beziehen die Kojen: Alan und Peter bekommen die ruhigste mittschiffs, Gerhard und Jan entscheiden sich für die Achterkoje, die Frauen ziehen ins Vorschiff: Karen und Ursula auf die Steuerbordseite, Unda und ich in die Backbordkoje.

Es wird unser erster Abend gemeinsam in der Messe der Selma, es fühlt sich gut an für den Moment und macht Lust auf die vielen, die noch folgen werden. Am nächsten Tag, Freitag, erwarten wir Wojtek und Ewa (unsere Co Skipper), und für Freitag ist auch unsere Abreise aus Argentinien geplant.

Ein perfekter Tag

Es gibt sie diese magischen Tage, die so perfekt sind, dass man sich manchmal kneifen muss zu prüfen, ob man nicht träumt. Ein solcher Tag war für mich unser erster Tag in Ushuaia.

Ein erstes gemeinsames Abendrot am Vorabend, die ganze Crew an einem Tisch fröhlich zusammen feiernd, dass wir, ein jeder auf einem anderen Weg und doch alle zum vereinbarten Zeitpunkt und inklusive allen Expeditions-Gepäcks, pünktlich eingetroffen waren.

Berge, Bäume und Bieber

Am Vormittag des 31.01.24 ging es zunächst auf eine wunderbare kleine Wanderung durch Märchenwald mit grünbärtigen Bäumen, entlang an Bach und Biberseen (zwei prächtige Exemplare beobachtend) in zauberhafter Kulisse der umgebenden Berglandschaft.

Alma Yagan

Eine Autofahrt 30km auf unbefestigter Straße brachte uns noch näher ans Ende der Welt zur kleinen Hütte von Alma Yagan, einen wunderbaren Ort am Meer, so harmonisch und friedvoll, dass sich entspannen und dankbar das Leben zu genießen, die einzige Option ist. Alma und ihr kleines Team kochen voller Liebe und Hingabe mit regionalen Zutaten, Wildkräutern und Meeresgaben (Fisch, Schalentiere, Algen etc.) leckerste Gerichte, zauberhaft serviert in Muscheln. Die Latte fürs Kochen an Bord liegt jetzt herausfordernd hoch…😉)

Harberton Bay

Ein Besuch in der Harberton Bay ist das dritte Highlight des Tages. Nur wenige Menschen leben hier, es gibt ein kleines Museum und ein Café. Und es gibt Pablo mit zwei riesigen Stapeln Holz für den Winter auf der Straße, welche er begonnen hat, in seinen Garten hinter dem Zaun zu werfen. Eine spontane Teamaktion bewegt beide Haufen in kurzer Zeit an seinen neuen Platz und Pablo uns in sein Haus, Kaffee, Butterplätzchen und Geschichten vom Leben da draußen offerierend. Ein wunderbares Gespräch zwischen drei Sprachen jonglierend, wobei viel Begegnung auch zwischen den Worten stattfindet.

Eine Kiste mit Schädeln

Zum Abschluss gibts noch einen Besuch in der Tierpräparationshütte von Juan, wir bestaunen Walbarten, diverse Kiefer von Meeressäugern und haben den „Duft“ aus der „Schädelkiste“ noch eine ganze Weile in der Nase.

Angekommen

Endlich da! Angekommen in Feuerland. Nach einer schier nicht enden wollenden Reise.

Ushuaia

Die südlichste Stadt der Welt empfängt Gerhard und mich (wir haben uns in Buenos Aires getroffen und saßen im gleichen Flugzeug) mit einem freundlichen Sonne Wolken Mix. Unser Gepäck ist glücklicherweise vollständig und überraschend empfangen uns Piotr, Karen und Jan am Flughafen – ein herzliches Willkommen und Wiedersehen nach neun Monaten.

Ushuaia ist nicht wirklich schön, die Lage jedoch fantastisch, die Stadt liegt am Beagle Kanal und wächst die unmittelbar angrenzenden Hügel hinauf, gleich dahinter eine beeindruckende Bergkette. Gegenüber der Blick auf die chilenischen Gipfel, schroff, zackig, zum Teil noch mit etwas Schnee hier und da. 

An das Rastersystem der Stadt gewöhnt man sich schnell, ihre Gebäude überraschen durch einen sehr individuellen Mix. Viele der Häuser sind ziemlich klein, aus Holz und Blech, schlicht, improvisiert, sehr individuell. Aus dem Fenster meiner Bleibe für die ersten zwei Nächte habe ich einen sensationellen Blick auf die Stadt, die Bucht am Beagle Kanal und den Hafen. Gleich da unten liegt auch die Selma, die in ein paar Tagen unser Zuhause für die nächsten sieben Wochen werden wird.

Cerro Susana

Am nächsten Morgen weckt mich ein sonniger Tag. Nach einem gemeinsamen Frühstück entscheiden wir uns für eine Wanderung auf den Cerro Susana, westlich der Stadt. Gerhard hat uns ein Auto gemietet und ist dankenswerterweise unser Fahrer. Eine kleine Stadtrundfahrt führt zunächst in die westlichen Ausläufer der Stadt. Die letzten Kilometer über dirt roads, die Stadt lichtet sich, nur noch hier und da stehen einzelne letzte Häuser. Irgendwann endet die Piste. 

Der Aufstieg auf den Cerro Susana windet sich auf einem kleinen Pfad den Berg hinauf, führt durch wilden Urwald, grün und üppig, voller knorriger Bäume, oftmals umgestürzt und von Flechten überzogen. Orchideen hier und da und merkwürdige kugelrunde orangefarbene Gebilde an den Bäumen, eine Art Parasit wie es scheint. Später lesen wir: es ist ein Pilz, Indian Bread genannt. Je höher wir kommen, umso lichter der Bewuchs und schöner der Ausblick auf den Beagle Kanal und die Stadt und die kurze Landebahn des Flughafens auf einer kleinen vorgelagerten Halbinsel. 

Selma

Am Abend ein erster Besuch auf der Selma im Club Nautico Afasyn am Steg. Die Yachten liegen im Päckchen, ich entdecke viele bekannte Namen, die mir im Laufe der Suche nach einem Boot und Skipper für diese Expedition über den Weg gelaufen sind – die Icebird, die Podorange, die Sonabia, auch die Spirit of Sydney liegen hier. Ich bin froh, dass es die Selma geworden ist. Knallrot und sympathisch liegt sie dort, ein schönes Boot, ohne Schnickschnack, robust, pragmatisch, für unser Vorhaben genau richtig. Und obwohl sie im Päckchen am Pier klein wirkt, für meine bisherigen Verhältnisse auch ganz schön groß.

Ich treffe Piotr und die bisherige polnische Crew, die im und ums Boot wuselt, wir besprechen grob die nächsten Tage und die Dinge, die erledigt, organisiert und besprochen werden müssen.

Irgendwo dazwischen

Nun bin ich also tatsächlich unterwegs. 

Gestartet gestern mit unzähligen guten Wünschen, kleinen praktischen Geschenken oder Talismanen für die Reise und verabschiedet von meiner Familie und überraschend an der Straße winkenden Freunden. Dank des Bahnstreiks, der eine Anreise unkalkulierbar machte, sogar mit einem persönlichen Taxi bis zum Flughafen.

Jetzt sitze ich im Flugzeug von São Paulo nach Buenos Aires. Unter mir zieht – durch eine luftige Wolkendecke vor meinen neugierigen Blicken verborgen – Brasilien vorbei. Lediglich einen kurzen Blick auf die Atlantikküste habe ich erhaschen können. Dies ist die zweite Etappe der Anreise, nach der ersten Etappe von Frankfurt nach São Paulo, knapp 12 Stunden Flug durch die Nacht. Die dritte bringt mich dann heute Nachmittag von der argentinischen Hauptstadt nach Patagonien, nach Ushuaia in Feuerland, an den Ort, welcher von sich behauptet, die südlichste Stadt der Welt zu sein. Einen Titel, den das kleinere Puerto Williams, auf der Südseite des Beagle Kanals in Chile gelegen, ebenfalls für sich beansprucht. Wie dem auch sei: Beide gelten gemeinhin als Tor in die Antarktis. Von hier aus starten regelmäßig Schiffsreisen, heute gern Expeditionskreuzfahrten genannt, in Richtung des Weißen Kontinents. 

Auch wir wollen dorthin, mit unserer Segelexpedition Sailing SOUTH 2024.

Nach knapp zwei Jahren Planung und Vorbereitung ist es nun endlich soweit. Was lange Zeit in weiter Ferne und in den Sternen lag, das erste Jahr nicht einmal klar, ob es überhaupt gelingt, ein solches Unterfangen auf die Beine zu stellen, steht nun plötzlich unmittelbar bevor. Aus einem Traum, einer Idee ist Realität geworden.

Es kommt mir noch immer ein wenig unwirklich vor und so ganz wird es wohl erst langsam ins Bewusstsein dringen, wenn ich angekommen bin am Fin del Mundo, am Ende der Welt, über den Hafen blicke und den Beagle Kanal, den Startpunkt unseres Törns. Wer weiß – vielleicht sogar erst dann, wenn wir abgelegt haben werden und mir an Deck stehend der Wind um die Nase pfeift, während wir die Stadt im Kielwasser hinter uns zurücklassen.

Glücklicherweise bleibt noch eine Woche Zeit in Ushuaia, um anzukommen, den Alltag abzustreifen, die Anspannung der letzten Wochen hinter sich zu lassen und langsam in die Reise einzutauchen. Die Ouvertüre sozusagen, bevor das eigentliche Abenteuer beginnt.

Eine Woche, in der nach und nach alle weiteren Crew Mitglieder des Teams eintreffen werden, in der wir ein wenig Ushuaia und seine Umgebung erkunden können, aber vor allem auch die letzten Dinge organisieren, unser Equipment prüfen, Einkäufe erledigen, proviantieren und verstauen, uns als Team zusammen finden und unser Schiff, die Selma, klar machen zum Ablegen für unsere eineinhalbmonatige Reise ins Südpolarmeer. Zu