Es ist bereits Nachmittag, als wir Enterprise Island erreichen. Es ist grau, trüb. Aus den tief hängenden Wolken fällt leichter Niesel.
Nahe einer von einem Gletscher eingefassten Bucht lassen wir den Anker fallen. Hier in Foyn Harbour liegt das rostige Wrack der Governøren. Das Schiff fungierte Anfang des 20. Jahrhunderts sozusagen als schwimmende Walfabrik. Vom Walfang bis zur Verarbeitung des Blubber zu Öl wurde alles an Bord erledigt. Es gehörte zu den größten und technisch fortgeschrittensten Walfabrikschiffen seiner Zeit.
1915 geriet die Governøren in Brand. Der Kapitän setzte es hier auf Grund, um Mannschaft und einen Teil der Fracht zu retten. Die 85 Mann Besatzung blieben unversehrt. Das Wrack wurde zu einer Erinnerung an die Geschichte des Walfangs in der Antarktis. Halb versunken, rostig, trotzig aus dem Wasser aufragend, noch immer imposant ist es heute zur Heimat von Antarctic Terns (Küstenseeschwalben) geworden. Auch im näheren Umkreis zeugen weitere Überbleibsel von diesen historischen Zeiten: zahlreiche Festmacher an den felsigen Küsten der Inseln, rostige Ketten oder hölzerne Wasserboote, die damals der Frischwasserversorgung dienten.
Das trübe, graue und nasse Wetter passt irgendwie zum Verfall der vor sich hinrottenden Relikte und zu diesem durchaus düsteren Kapitel der Antarktis.
Glücklicherweise haben sich die Zeiten geändert und die Walbestände wieder etwas erholt. Es gibt sie hier wieder. Wenn auch nicht ganz so zahlreich wie zu Ende des 19. Jahrhunderts, haben wir doch auch heute wieder viele von ihnen gesehen und – im Nebel – vor allem gehört.
Auch jetzt hören wir sie wieder in der Nähe blasen, atmen… irgendwo hier müssen welche sein. Und wir machen uns auf mit dem Dinghi, wollen unser Glück versuchen, sie zu finden.
Wir tasten uns knapp zwei Stunden durch den Nebel, stoppen immer wieder, lauschen. Stille, keiner wagt zu atmen. Da! Wir hören einen Blas! Versuchen Richtung und grobe Entfernung auszumachen, was bei diesen Verhältnissen schwer ist. Die Stille und der Nebel tragen die Geräusche meilenweit. Wir fahren ein Stück in die vermutete Richtung und starten das Spiel von neuem. Wieder und wieder. Die Wale halten uns zum Narren, mittlerweile ist der Blas aus mehreren Richtungen zu hören. Wir entscheiden uns für eine und haben Glück. Unsere Geduld wird belohnt: irgendwann lichtet sich der Nebel und in einiger Entfernung können wir sie sehen. Es sind drei Buckelwale. Ein vierter nähert sich aus einer anderen Richtung. Wir fahren ihnen mit dem Dinghi noch ein Stück entgegen. Dann stellen wir den Außenbordmotor ab, lassen uns treiben und beobachten sie still und ehrfürchtig. Sie kommen langsam näher, alle vier, sind irgendwann bei uns, neben uns. Schwarzglänzend. Tauchen auf, ab, wieder auf, unter uns hindurch. Wir halten den Atem an. Die Wale blasen, atmen, schnaufen in ihrem ganz eigenen, ruhigen Rhythmus. Dieses archaische Geräusch, diese Riesen der Ozeane so nah bei uns – das ist unglaublich beeindruckend, macht immer wieder Gänsehaut. Eine Begegnung, ein Erlebnis, das unter die Haut geht.
Unterwegs von Vernadsky Station nach Norden passieren wir die Nordwestküste der Antarktischen Halbinsel und damit den Teil, der am häufigsten von Antarktis Touristen angelaufen wird. Gut erreichbar, im Sommer meist eisfrei, nur die Drake Passage muss auf dem Weg von Ushuaia aus hierher passiert werden. Die Zahl der Expeditionskreuzfahrtschiffe ist wie die Zahl der Touristen in den vergangenen Jahren extrem angestiegen, entsprechend häufen sich die Anlandungen an besonders beliebten, leicht zugänglichen Orten. Es gibt strikte Zeitpläne, enge Zeitfenster, jede einzelne Anlandung muss vorab angemeldet und gebucht werden.
Wir waren die letzten Wochen glücklicherweise meist in abgelegenen Gegenden unterwegs, im Weddell Meer oder weit im Süden. Erst hier an der Westküste, rund um den Lemaire Kanal, haben wir ab und an einen Cruiser gesichtet. Doch jetzt neigt sich die Saison dem Ende, der Antarktische Sommer weicht bereits dem Herbst, viele Schiffe sind bereits zurück im Norden, selbst die viel besuchten Orte wieder einsam und verwaist.
So haben und nutzen auch wir auf unserem Weg die Gelegenheit, einige der touristischen Hot Spots anzulaufen und haben die letzten Tage sozusagen ein wenig Sightseeing an der Nordwestküste betrieben.
Port Lockroy
Am Mittwoch haben wir Vernadsky verlassen und ein zweites Mal den Lemaire Channel, diesmal nordwärts, passiert. Es wird Herbst, die Einfahrt war eisig. Wale haben uns begleitet, auf der Nordseite empfing uns kalter Wind mit 25 Knoten aus Nord und eine kräftige Welle auf die Nase.
Port Lockroy liegt an der Westküste von Wiencke Island im Palmer Archipel. Der Naturhafen wurde von der vierten französischen Antarktisexpedition (1904-1905) unter Leitung des Polarforschers Jean-Baptiste Charcot entdeckt und diente später dem Walfang. Auf der benachbarten Goudier Insel wurde bis 1962 die britische Forschungsstation A betrieben. In den neunziger Jahren renoviert wird sie heute als Museum samt Souvenirshop genutzt. Außerdem befindet sich hier das südlichste Postamt der Welt. Dies macht Port Lockroy zu einem der beliebtesten Ziele für Antarktis-Kreuzfahrtschiffe. Doch die Saison ist fast beendet und wir sind allein in Port Lockroy.
Fast: Auf der Insel lebt eine größere Kolonie Gentoo Pinguine (Eselspinguine). Auch die Station / das Museum ist noch besetzt, obwohl seit geraumer Zeit aufgrund der Vogelgrippe geschlossen und für Besucher nicht zugänglich. Wir kontaktieren die Station, erfahren, dass wir gern Post aufgeben können, wenn wir wollen. Allerdings würde diese erst Anfang der kommenden Saison abgefertigt und via Falklands versendet werden können, da die Abreise der Mitarbeiterinnen unmittelbar bevorsteht.
Die Idee, in gut einem Jahr unsere Lieben daheim mit einer Postkarte aus der Antarktis zu überraschen oder selbst eine zu bekommen (so diese denn ankommen sollte), gefällt uns. Wir können zwar keine im ansässigen Souvenirshop kaufen, aber auf der Selma finden sich noch ein paar. Wir schreiben fleißig an Familien, Freunde, einander … , sammeln britische Pfund fürs Porto und übergeben später der Station per Dinghi unsere Post.
Pinguine und Walknochen
Die Pinguinkolonie tummelt sich in unmittelbarer Nachbarschaft am Jougla-Point, einer felsigen Halbinsel. Inmitten der Kolonie liegen Unmengen an Walknochen, die vor vielen Jahren Jacques-Yves Cousteau hier zu einem nahezu vollständigen Skelett zusammengetragen hat. Überbleibsel der Walfangzeiten in dieser Bucht. In der Kolonie herrscht wie immer geschäftiges Treiben. Küken im Wechsel vom flauschigen Kinderflaum zum Federkleid der Erwachsenen jagen hinter ihren Eltern her, fordern mit Nachdruck eine Mahlzeit nach der anderen ein. Wieder und wieder wechselt eine grosse Portion zuvor gefangener Krill vom Schnabel der Eltern in den ihres Kükens.
Pinguine stehen reglos, manche zerzaust und geduldig ihre Mauser ertragend, auf den Felsen. Andere wandern von hier nach dort, einem sich dem Betrachter nicht immer erschliessenden Plan oder Ziel folgend. Unsere Anwesenheit scheint sie nicht sonderlich zu beeindrucken – wahrscheinlich sind sie hier ganz andere Menschenmengen gewohnt.
Der Wind frischt auf, wir machen uns auf den Rückweg zur Selma. Das Ablegen mit dem Dinghi zwischen den vielen Felsen bei auflandigem Wind gelingt erst nach mehreren Versuchen.
Am nächsten Morgen geht es weiter, es ist grau und kalt. Auf leichten Niesel folgen einige Sonnenlöcher, die in der Ferne treibende Eisberge auf dem dunkelgrauen Wasser zum glitzern oder leuchten bringen. Aufkommender Wind lässt die Hoffnung aufkeimen, Segel setzen zu können, doch er schläft wieder ein. Nebel zieht auf, bei spiegelglatter See sehen wir leider wenig von der spektakulären Kulisse des Neumayer Kanals. Später, in der Gerlache Strait, treffen wir wieder auf Wale. Überall, wohin man schaut. Schlafende, wandernde, jagende, fressende Wale. Fern, nah, ganz nah, direkt neben der Selma. Diese Begegnungen, die Geräusche sind immer wieder zutiefst beeindruckend.
Draußen faucht der Wind um die Masten der Selma und der Regen klopft aufs Dach des Steuerhauses – es herrscht schlicht Sauwetter. Wir haben uns gerade noch rechtzeitig wieder hier in den Argentine Islands in Vernadsky verkrochen, als der für die nächsten zwei Tage angesagte Sturm aus Nord am Montag Nachmittag heraufzog. Wie schon auf dem Weg nach Süden werden wir diesen hier geschützt abwettern.
Von Adelaide Island zurück nach Norden
Eigentlich sollte es um diese Jahreszeit eher schneien als regnen, es ist Herbst. Das war bereits die letzten Tage deutlich zu spüren. Auf dem Weg von der Südspitze Adelaide Islands hierher wurde es nach einem sonnigen Genuss-Tag mit bestem Wetter nach und nach kälter. Wir hatten es immer wieder mit viel Eis zu tun.
Eigentlich wollten wir auch Adelaide Island runden und auf der Westseite wieder nach Norden segeln. Doch auf dem Rückweg unserer Gletschertour haben wir von der Eiskappe aus zahlreiche große Eisberge und dicht gepackte Treibeisfelder vor der Westküste liegen sehen. Zusammen mit dem vorhergesagten stürmischen Wind aus SW keine optimalen Bedingungen, da wir bis Vernadsky in einem Schlag ohne Pause und damit auch zwei Nächte hindurch segeln wollten, um rechtzeitig anzukommen. Piotr hat daher entschieden, erneut den Weg auf der Ostseite von Adelaide Island zu nehmen, um nach Norden zurückzukehren. In den Kanälen wurde es teilweise schon richtig eng, mehr als einmal mussten wir umkehren, weil zu viel Eis die Durchfahrt unmöglich machte. Glücklicherweise gab es jeweils mit einem anderen Kanal eine Alternative. Auch die war eisgespickt. Aber mit ganz wenig Fahrt, viel Geduld, einem Ausguck auf dem Mast, viele Umdrehungen am Steuerrad und einer Person am Bug, die links und rechts das Eis am Bug der Selma vorbeizudrücken versuchte, sind wir – slowly slowly, step by step (Piotrs Herangehensweise in den allermeisten Situationen) – im Slalom durch die Eisfelder navigiert. In der Dunkelheit der Nacht waren wir einfach noch einen Tick vorsichtiger und im Schein unserer Bug Scheinwerfer unterwegs, unterstützt vom Radar und manchmal auch dem Mondlicht.
Waddington Bay, Rasmussen Point
Am Montag Morgen haben wir uns vor der Dämmerung gut 1,5 Stunden treiben lassen, bevor wir mit der Morgensonne Waddington Bay angelaufen sind. Auch hier war das Wasser bereits eisüberzogen. Kleinere Treibeisfelder und immer wieder Pfannkucheneis (dicht aneinander gepackte runde Eisflächen mit einem leicht erhabenem Rand, die aussehen wie große Pfannkuchen) begleiteten uns bis Rasmussen Island, wo wir vor Anker gingen. Wir wollten den sonnigen Vormittag und die Ruhe vor dem Sturm noch für einen Landgang nutzen. Mit dem Zodiac ging’s durchs Pfannkucheneis zur Insel. Ab und an mussten wir mit den Paddeln nachhelfen und das Eis brechen oder beiseite schieben.
Auf Rasmussen Island liegt ein Blauwal aus dem 12. Jahrhundert (!), beziehungsweise das, was von ihm übrig ist. Das war nach solch einer unvorstellbar langen Zeit eine ganze Menge: nicht nur das Skelett, auch Haut und Blubber sind teilweise erhalten. Aus dem riesigen Kieferknochen ragt ein armdickes Stück Nervenstrang, aussehend wie Holz, wie der Ast eines Baumes. Während wir schwer beeindruckt Wal und Eis bestaunten, nutze Ivan die Gelegenheit, um noch einmal fleißig Proben zu sammeln. Die Insel ist ein Paradies für ihn, immer wieder zieren üppige, saftig grüne Moospolster oder teils farbenfrohe Flechten die kargen Felsen.
Wir ließen Ivan Zeit, verholten die Selma und setzten mit dem Dinghi über nach Rasmussen Point. Unterwegs stoppten wir an einer großen, treibenden Eisscholle und enterten diese für einen kurzen Eisspaziergang. Am Rasmussen Point erwartete uns eine Kolonie Gentoo Pinguine. Diese waren über unsere Anlandung jedoch nicht sonderlich begeistert, so dass wir uns einen weniger dicht besiedelten Platz suchen mussten.
Einmal die Felsen hinauf geklettert hatten wir eine fantastische Aussicht. Eisberge, Pinguine, Skuas, üppiges Moosgrün, verlassene Pinguinnester … und eine kleine Schutzhütte der ehemals britischen Faraday Station. Der Blick auf den benachbarten Gletscher, seine riesige Front und Abbruchkante war gigantisch. Doch aus der Ferne zog aus Südwesten bereits dunkel die Front heran.
In den sicheren Hafen
Wir beeilten uns, zur Selma zu kommen, sammelten Ivan samt Material von der Insel ein und setzten Kurs auf die gut fünf Meilen entfernte Vernadsky Station. Das Wetter schlug binnen kürzester Zeit um, der Wind frischte auf knapp 30 Knoten auf, was die Fahrt durchs dichte Eis nicht einfacher machte. Der Blick durchs Fernglas vom Mast stimmte aber zuversichtlich: entlang der Küste der Argentine Islands ließ ein schmaler dunkler Streifen mehrheitlich offenes Wasser vermuten, was sich auch bewahrheitete.
Gerade rechtzeitig passierten wir die Station und erreichten die kleine Bucht, wo bereits eine andere Yacht, die Jonathan, gut vertäut lag.
Wir warfen den Anker und brachten unsere Landleinen aus, diesmal fünf, so dass wir eng an den Felsrand der Bucht geschmiegt im Windschatten zu liegen kamen. Stets gut beobachtet vom Hausherrn der Bucht: dem Seeleoparden. Zunächst spielte er interessiert zwischen Fels und Boot, tauchte auf und ab, rollte und drehte sich, schwamm unter der Selma hindurch, kam zurück und begann von vorn mit seinem Spiel. Irgendwann wurde das Dinghi zum Objekt seiner Begierde und er begann, Ewa und Voy zu verfolgen, rammte einmal das Boot, so dass Ewa sich vorsichtshalber mit einem Paddel bewaffnete.
Doch irgendwann waren alle Leinen ausgebracht und dichtgeholt, Selma lag ruhig und fest, das Dinghi wieder sicher an Deck. Und wir konnten endlich in Ruhe anstoßen auf all die Ereignisse der letzten Tage im Süden anstoßen: die Überschreitung des Südlichen Polarkreises, den südlichsten Punkt unserer Reise, die geglückte Land-Exkursion, darauf, dass das gemeinsame Leben und Miteinander an Bord noch immer wunderbar und ein Fest ist… Der Neptunia Hendricks Gin aus Ushuaia war dafür gerade richtig, und auch Neptun bekam seinen Schluck zum Dank.
Missgeschick I – Böse Überraschung
Ivan hatten wir bereits direkt nach unserer Ankunft glücklich samt seinen Kisten und Tüten voller Proben wieder bei der Station abgesetzt. Wir hatten den gesamten Abend gemütlich an Bord verbracht und waren froh, bei dem Sauwetter das Boot nicht verlassen zu müssen, so wie Piotr, der noch einen Sauna-Termin hatte.
Der Sturm war die ganze Nacht über deutlich zu spüren, rüttelte immer wieder an den Leinen, fauchte durch die Wanten, der Regen prasselte an Deck. Der nächste Morgen sah nicht viel besser aus. 40 Knoten Wind, grau und nass. Und der erste Blick aus dem Ruderhaus hielt noch eine weitere unschöne Überraschung für uns bereit: das Dinghi lag ziemlich platt im Wasser, die vordere Kammer schlapp und luftleer.
Offenbar hatte unser Nachbar, der Seeleopard, diesmal seine Spielfreude etwas übertrieben. Ob aus Frust darüber, dass das orangefarbene Ding nicht mit ihm spielen wollte, oder ob er vielleicht den Schluck für Neptun abgekriegt und nicht vertragen hat, wissen wir nicht. Nur dass Piotr, spätnachts aus der Sauna zurückkehrend, bei den heftigen Windböen das Dinghi nicht allein an Deck hieven konnte und keine helfenden Hände mitten in der Nacht aus dem Schlafsack holen wollte. So schnell kann’s gehen, wenn man einmal nicht aufpasst. Doch ärgern ändert nichts und hilft nicht weiter. Wir saßen das Missgeschick wegen des Mistwetters erst einmal aus, frühstückten in Ruhe, vertrödelten den Tag mit Lesen, Schreiben, Fotos sortieren …
Als sich um vier endlich der Dauerregen in ein sanftes Tröpfeln verwandelte, bargen wir das kaputte Dinghi. An Deck hängend offenbarte sich das Ausmaß des Schadens: an mehreren Stellen lief das eingedrungene Wasser heraus. Der Seeleopard hatte ganze Arbeit geleistet (oder das Dinghi erbitterten Widerstand, so dass er sich bemüßigt fühlte, ihm den Garaus zu machen): alle drei Kammern waren beschädigt und zeigten deutliche Spuren seiner scharfen Zähne – Löcher, Schlitze, Risse über Eck … Piotrs Urteil lautete angesichts des Alters und Gesamtzustandes Totalschaden. Was uns an diesem Tag den Transport zur Station und eine Reparatur ersparte. Wir zerlegten das Dinghi und verstauten alles in der Vorpiek, wo es für den Rest der Reise seine letzte Ruhestätte finden würde. Hievten das zweite, etwas kleinere Ersatz-Dinghi an Deck und machten es einsatzbereit. Der Bösewicht und Schadensverursacher ließ sich übrigens den ganzen Tag nicht ein einziges Mal blicken.
Missgeschick II
Der Tag geht bereits zur Neige, als wir endlich in zwei Etappen zur Station übersetzen und zum heiß ersehnten Wellness-Programm übergehen können. Der erste Teil huscht direkt unter die Dusche und danach in die Sauna. Teil zwei, zu dem auch ich gehöre, braucht noch etwas Geduld, da wir erst eine der Landleinen lösen und später wieder ausbringen müssen, um die Jonathan, die sich an einen anderen Platz verholen will, aus der Bucht zu lassen.
Danach ist das Dinghi frei und wir fahren zur Station. Dort angekommen vertreiben wir uns noch ein wenig die Zeit, sind eingeladen, trinken einen Wein in der Bar. Als der Rest uns über Funk anruft, dass wir rüber kommen können in die Sauna – wir würden einfach etwas mehr zusammen rücken und schon alle irgendwie hineinpassen – lassen wir uns das nicht zweimal sagen: Karen, Ursula und ich machen uns auf den Weg. Da das Dinghi bei der Selma ist, entscheiden wir uns der Einfachheit und Schnelligkeit wegen für den Landweg durch die Pinguinkolonie. Ivan drückt uns zwei große Wasserkanister in die Hand und meint, wir müssten nur das Schneefeld queren und dann über die Felsen kraxeln.
Das Licht der Sauna leuchtet verlockend zu uns hinüber. Die Pinguine weichen uns empört aus, einige haben es dabei so eilig, dass sie ausrutschen. Wenn sie sich dann schimpfend wieder aufrappeln und davon stolpern muss man einfach lachen. Doch das Lachen vergeht mir einen Augenblick später, als meine Füße plötzlich keinen Halt mehr finden. Der Schnee ist einer gefährlichen Mischung aus blankem Eis und vom Regen aufgeweichten Pinguin Guano gewichen, der die Sohlen meiner Gummistiefel nicht gewachsen sind. Ich rutsche aus und schlittere mit Schwung an Karen vorbei den Hang hinunter. An dessen Ende klatschen die Wellen ans Eis. Da will ich definitiv nicht landen und versuche mich irgendwo festzuhalten, aber nasses Eis und schlammige Pinguinnester erweisen sich als ziemlich ungeeignet. Meine Hose ist bereits völlig durchweicht. Am Ende ist es ein großer Haufen Guano, in dem meine Hände Halt finden. Ich komme irgendwie zum stehen, rapple mich auf, wieder auf die Füße. Meine Hose, meine Stiefel, mein Handtuch, meine Hände … alles ist total verschmiert. Auch Karen und Ursula bekommen ein paar ordentliche Spritzer ab, als ich meine Hände schüttelnd vom gröbsten Dreck befreien zu versuche. Mit einem grinsenden „Du siehst aber beschissen aus!“ und viel Gelächter werden wir an der Sauna empfangen. Das kommt davon, wenn man stolpernde Pinguine auslacht …
Ich rieche wie eine ganze Pinguinkolonie, ziehe die Klamotten aus, wasche alles grob aus – mit mittlerem Erfolg. Doch egal. Erst mal quetschen wir uns alle in die heiße Sauna, lachen uns kaputt über dieses Missgeschick (das sicher des Öfteren passiert) und genießen die Hitze und im Anschluss das prickelnde Bad im eiskalten Ozean. Den Rückweg trete ich später gezwungenermaßen in Unterhose, Gummistiefeln und meiner halbwegs verschont gebliebenen Segeljacke an, diesmal lieber mit einem Umweg über den felsigen Teil der Kolonie. In der Station folgt eine gründliche Wäsche: ich springe unter die Dusche, die Klamotten wandern in die Waschmaschine, wir in die Bar. Als wir später mit dem Dinghi den Heimweg auf die Selma antreten, sind die Klamotten wieder sauber und duften nach Ariel statt nach Pinguin.
Abschied
Am nächsten Morgen heißt es Abschied nehmen. Wir wollen weiter, unser Kurs zeigt nach Norden. Ivan wird noch weitere vier Wochen hier bleiben, bevor im April die Belegschaft wechselt und er wie die meisten der Stationsmitglieder die Heimreise antreten wird.
Es ist ein emotionaler, etwas wehmütiger Abschied. Wir alle stehen an Deck, als die Selma an der Station, am kleinen Holzpier vorbeigeleitet, auf dem Ivan steht und uns zuwinkt, noch schnell ein paar Abschiedsgrüße hin- und hergerufen werden. Ich bin sehr gerührt in diesem Moment und habe tatsächlich feuchte Augen. Obwohl wir hier nur zweimal für je zwei Tage vor Anker lagen, ist es so, als würde man gute, sehr vertraute Freunde zurücklassen. Vernadsky war während dieser Tage wie ein kleines Zuhause für uns, ein Ort, an dem wir warm und herzlich empfangen und umsorgt wurden. An dem wir geschützt und sicher lagen, während draußen zwei Stürme durchzogen. Ein Ort, an dem wir ganz besondere Menschen in einer ganz besonderen Zeit kennenlernen durften. Die zu verlassen, zurückzulassen schwer fällt, da wir alle in eine ungewisse, aber besonders sie und ihre Familien in eine schwierige Zukunft blicken. Unsere Gedanken sind bei ihnen, auch wenn sich unsere Wege nun wieder trennen. Wir sind sehr dankbar, dass sie sich gekreuzt haben. Danke Vernadsky!
Bin am Anziehen für die Wache, da höre ich wie der Motor abgestellt wird. Gerhard, Alan und Piotr, unser Skipper, kommen runter in den Salon. Keine Wache?
Doch, aber weil wir im Eisfeld sitzen und auch der Weg in die Bucht voll Eis ist, ist die Weiterfahrt im Dunkeln nicht optimal.
So werden wir driften und warten bis es hell ist.
Ich soll Piotr nach fünf Uhr wecken, er wird dann die Lage neu beurteilen.
Nun sitze ich an Deck und halte alleine Wache. Es ist bitterkalt. Aber mit meinen drei Schichten gut auszuhalten.
Gegenüber ein Licht nahe des Ufers, ein Cruiser vor Anker? Die Selma schaukelt sanft hin und her, der Mond und tausende Sterne leuchten am Himmel. So friedlich und ruhig ist die Nacht.
Kleine Eisbrocken ziehen knisternd vorbei. Ab und zu klatscht eine Welle leise an die Bordwand, sonst herrscht Stille.
Bei Minustemperaturen ohne Handschuhe zu schreiben ist doch etwas kalt. Ich wärme meine Hände an der noch heißen Teetasse. Ein Pinguin ruft von der nahe gelegenen Insel. Dann wieder Stille.
Da höre ich ein Schnaufen! Ein Wal? Nein, es ist ein Robbe, welche neugierig ihren Kopf aus dem Wasser hebt. Wir schauen uns in die Augen. Dann taucht sie, mit einem kurzen Blick zurück, wieder ab. Eine Möwe fliegt schreiend über mich. Dann ist es wieder ruhig.
Die Venus leuchtet hell am östlichen Himmel, der Morgen erwacht – die ersten Berggipfel werden von der Sonne, welche noch nicht sichtbar ist, angestrahlt.
Ich wecke Piotr. Sein Schlafplatz ist im Pilothouse, so hat er alle Navigationssysteme in Sichtweite.
Er schaut aufs iPad (die Seekarte), ein kurzer Blick aus dem Fenster. Alles ok!, obwohl die Insel für mich ziemlich nahe gerückt ist…..
Er gönnt sich nochmals eine Stunde Schlaf, das heißt, ich soll ihn um sechs wieder wecken.
Kurz vor sechs, sehe ich ein Segelboot auf uns zukommen, die Yacht zieht langsam an uns vorbei. Die vierköpfige Crew, dick eingepackt, grüßt mich freundlich. Das Tuckern des Motors löst sich im Rufen der Pinguine, welche den Tag begrüßen, auf.
Ich wecke Piotr und Unda, meine heutige Wach-Partnerin, auf.
Piotr stärkt sich noch mit einem Kaffee und schon geht die Fahrt los. Unda und ich kämpfen uns mit Selma durchs Eis. Ich am Steuer und Unda mit dem Stick am Bug, um die Eisschollen, welche wir nicht umfahren können, wegzudrücken.
Um 08.05 Uhr sind wir nahe der kleinen Insel Rasmussen Island angekommen – unsere Schicht ist zu Ende.
Ein neuer Tag ist erwacht! Er wird uns aufs Neue mit vielen unvergesslichen und spannenden Momenten beglücken. Dafür bin ich sehr dankbar.
P.S.
Ja, dieser Tag hat ganz speziell für mich angefangen – mein Handy hat sich neu positioniert und hat seit heute Morgen um 08.15 Uhr folgende neue Koordinaten: 65°14´41“ S 064°15´31“W, Tiefe 134 Meter
Seit fast einem Monat sind wir nun unterwegs. Weit im Süden angekommen. Und bereit für unsere geplante Tour an Land. Große Vorfreude für das fünfköpfige Mountaineering Team, bestehend aus Alan, Jan, Karen, Piotr und mir. Schließlich haben wir alles Equipment dafür mitgenommen, vorbereitet und in Puerto Williams und Vernadsky getestet.
Leider meint es der Wettergott diesmal nicht ganz so gut mit uns – er gönnt uns nur ein kurzes geeignetes Wetterfenster. Eigentlich wollten wir drei Tage an Land unterwegs sein, um auf das Plateau des Festlands der Antarktischen Halbinsel aufzusteigen. Nun mussten wir unsere Pläne ändern: statt der Eiskappe des Festlands wird es die von Adelaide Island, statt der geplanten drei Tage haben wir einen Tag und eine Nacht bis zum nächsten Vormittag Zeit. Das ist schade, doch wir sind und bleiben flexibel und ergreifen glücklich die Chancen, die sich uns bieten.
Aufbruch
Früh am Morgen des 1. März haben wir vor Leonie Islands den Anker gelichtet. Der Rest der Crew übernimmt liebenswerterweise unsere Wachen und das Frühstück, so dass wir uns um unser Equipment kümmern können. Es ist immer wieder erstaunlich, wie viel Platz und Stauraum so ein Boot bietet. Wir wühlen uns durch Schränke, Schapps, unter Bänke und in die Zwischenräume zwischen Salonwand und Bordwand und füllen binnen kürzester Zeit den Salon mit unseren Sachen: Hochtourenequipment (Seile, Gurte, Helme, Karabiner, Eisäxte, Steigeisen und Co), Zelte, Isomatten, Schlafsäcke, Kocher, Töpfe, Essen, Reserveklamotten und Notfallequipment … stapeln sich, werden sortiert und in den Rucksäcken und Schlitten-Packsäcken verstaut. Der Rest der Crew ergreift angesichts des von uns verbreiteten Chaos die Flucht an Deck oder ins Steuerhaus.
Dass die Selma währenddessen die Südostspitze von Adelaide Island nahe Cape Alexandra im Woodfield Channel und damit auch den südlichsten Punkt unserer Reise auf 67 47´ 700´´ S und 068 46´ 003´´ W passiert, verpassen wir dabei.
Gegen zehn erreichen wir unseren geplanten Ausgangspunkt, die ehemalige chilenische Station Teniente Carvajal an der Südwestspitze der Insel. Unzählige Eisberge und ein nahezu geschlossener Teppich aus großen und kleinen treibenden Eisstücken, crushed ice, liegen vor der Küste und wir bahnen uns langsam und knirschend einen Weg hindurch. Es beginnt zu schneien, der Wind bläst ungemütlich. Während der Anker fällt, holen wir die Pulkas und die Schneeschuhe aus der Vorpiek und das gesamte Equipment an Deck. In mehreren Etappen wird alles mit dem Zodiac an Land gebracht und auf die alte, von Wind und Wetter zerbröselnde Pier der Station gehievt.
Die Station ist seit Jahren verlassen. Mehrere Gebäude verwahrlosen hier im rauen antarktischen Klima vor sich hin, Unmengen an Müll, ehemaligem Baumaterial und Schutt liegen herum. Dazwischen ebenfalls Unmengen an Pelzrobben, die das Areal in Beschlag genommen haben und genauso wie die Skuas ihr Küken vehement ihr Territorium verteidigen, durch das wir uns samt unserer Ausrüstung einen Weg zu bahnen versuchen. In einem der offen stehenden Gebäude tauschen wir die Gummistiefel gegen Bergschuhe und lassen unsere Segelklamotten zurück. Wir suchen uns einen Weg zum Gletscherrand hinter der Station und bringen – erneut in Etappen – Pulkas, Packsäcke und Rucksäcke zum Startpunkt, im Zick-Zack zwischen umherliegendem Müll, glitschigen Felsen, neugierigen Pinguinen, fauchenden Pelzrobben, im Sturzflug attackierenden Skuas und schlafenden Seeelefanten. Nach einer gefühlten Ewigkeit seit unserer Landung – mittlerweile ist es Mittag – sind Gurte und Steigeisen angelegt, Rucksäcke und Helme aufgesetzt, alle in die Seilschaft eingebunden, die Pulkas um die Hüften geschnallt und wir endlich startklar. Die übrige Crew winkt zum Abschied und wir laufen los.
Aufstieg auf den Gletscher
Im unteren Bereich ist der Gletscher aper, das Eis liegt blank. Es dauert eine Weile, bis sich unsere Fünfer-Seilschaft zurecht ruckelt und ein gemeinsames Tempo findet. Alan führt, es geht zunächst den Gletscher hinauf auf die Eiskappe – das Fuchs Ice Piedmont. Nach einer halben Stunde treffen wir auf das Wrack eines Flugzeugs im Eis, Überreste einer abgestürzten chilenischen Twin Otter. Auf dem Eis liegen unzählige Fässer mit Treibstoff herum, der Blick zurück geht über die Bucht und Avian Island, vor uns liegt nichts als Weiß, links der von Eisbergen gesprenkelte Ozean, rechts begrenzen die wolkenverhangenen Berge der Princess Royal Range unser Sichtfeld. Es hat aufgehört zu schneien. Die nächsten Stunden bestehen einfach nur aus Gehen, Schritt für Schritt die sanft ansteigende Eiskappe hinauf. Mal mehr, mal weniger gleichmäßig finden wir irgendwann unseren Rhythmus. Es gibt nur wenige, schneebedeckte Spalten, die parallel zu unserer Laufrichtung verlaufen. Ein Schatten oder minimal eingesackter Schnee lassen sie meist erahnen. Zwei-, dreimal sacken wir ein, jedoch nur bis zum Knie. Der als Ziel avisierte Nunatak vor der Bergkette kommt nur langsam näher, auch hier halten uns die Entfernungen zum Narren, täuschen eine Nähe vor, die trügt. Das Grau des Himmels wird dunkler und dunkler. Die scharf gezogene Linie zwischen Eisfläche und Himmel, der Kontrast zwischen beidem sieht wunderschön aus. Mit der Zeit kommt ein Wolkenband hinzu, welches sich vom Meer her in unsere Richtung bewegt.
Gegen fünf, nach dreieinhalb Stunden beschließen wir, unser Lager aufzubauen. Der Nunatak und die Berge sind deutlich näher gerückt, aber noch nicht erreicht. Aber wir müssen am nächsten Morgen zurück, wollen spätestens um zehn wieder auf der Selma sein, bevor der Wind auf Süd dreht und das Eis weiter in die Bucht drückt.
Camp auf dem Eis
Wir prüfen das Gelände um das Camp auf Spalten, bauen die beiden Zelte auf, fixieren alles windsicher mit Schneestangen, Stöcken, Eisäxten … binden die Pulkas fest. Schnee wird geschmolzen und hungrig genießen wir vor den Zelten unser dreigängiges Menü aus dehydriertem Trekking Essen direkt aus der Tüte: vegetarische Pasta Bolognese, Creamy Pasta Alfredo und zum krönenden Abschluss Mousse au Chocolat. Satt und zufrieden vermissen wir den vergessenen Whisky oder Rum nur ein bisschen.
Es ist trotz warmer Daunenjacken empfindlich kalt geworden, die vom Meer heranziehenden Wolken haben uns erreicht und binnen weniger Minuten hüllen sie uns vollständig ein. Whiteout. Und Zeit, sich in die Zelte zu verkriechen, diese zwei kleinen gelben Punkte im großen, unendlich scheinenden weißen Universum um uns herum. Während wir es uns drinnen gemütlich machen, beginnt es draußen zu schneien. Es dauert ein wenig, bis uns warm wird – die drei Männer nebenan haben es wahrscheinlich kuscheliger als Karen und ich. Wir lauschen noch ein wenig gemeinsam den auf die Zeltwand rieselnden Schneekristallen und der antarktischen Stille, bis von nebenan leises Schnarchen herüber dringt und auch wir irgendwann einschlafen.
Acht Stunden ungestörter Schlaf liegen vor uns: keine Wache, kein Manöver, kein Eisberg, kein Ankeralarm … richtig genießen kann ich diese jedoch nicht. Es ist ein unruhiger Schlaf, zu oft werde ich wach. Auch der Rücken findet acht Stunden liegen ungewohnt lang und das Aufwachen morgens um vier daher gar nicht so schlimm. Wenn man nur nicht aus dem warmen Schlafsack müsste! Wir zögern dies maximal hinaus, schmelzen im roten Licht der Stirnlampen erstmal den am Abend im Vorzelt deponierten Schnee, löffeln warmes Müsli aus der Tüte. Erst danach schälen wir uns aus dem Schlafsack in die Klamotten und Schuhe, die – nachts unter den Kniekehlen unterm Schlafsack deponiert – halbwegs erträglich warm geblieben sind. Am Morgen bin ich froh um den vielen Platz zu zweit im Zelt, die drei nebenan haben’s da enger.
Der erste Blick aus dem Zelt entschädigt für das frühe Aufstehen und die Überwindung, sich aus dem warmen Schlafsack zu pellen. Es ist klar, der Mond steht noch am pastellfarbenen Himmel. Die Linie der Bergkette messerscharf, darüber ein paar Schleierwolken, zartrosa, wie gemalt. Der frische Schnee hat alles blütenweiß überzuckert, das Meer in der Ferne stahlblau, es wirkt wie zugefroren. Und im Osten färbt der nahende Tag den Himmel bereits golden. Ich kann mich kaum satt sehen, doch die Luft ist klirrend kalt. Nach und nach kommt Bewegung auch ins Nachbarzelt, einer nach dem anderen schält sich hinaus in den antarktischen Morgen.
Zurück ans Meer
Wir packen zusammen, bauen die Zelte ab, beladen die Pulkas, machen uns startklar. Ziehen zunächst alles an, was wir haben, um der Kälte zu trotzen. Das Anziehen der Steigeisen ist zwar einfacher ohne Handschuhe, aber es dauert lange, bis die Finger hinterher wieder warm werden. Es tut gut, endlich loszulaufen, die in der Kälte steif gewordenen Muskeln zu bewegen. Eine feine Schicht Neuschnee liegt auf unserer Schlittenspur vom Vortag, der wir nun auf dem Weg zurück folgen. Mit jedem Schritt wird der Körper wärmer, die Muskeln geschmeidiger, kehrt das Gefühl zurück in die Fingerspitzen. Der Himmel färbt sich von hellblau zu tiefblau, der Schnee vor uns zartrosa, von der über die Bergkette kletternden aufgehenden Sonne bereits angestrahlt. Wir sind bereits eine Stunde unterwegs, als wir sie erreichen, die Wärme auf unseren Gesichtern spüren, eine erste kurze Pause einlegen, um die Nasen in die Sonne zu recken, das Funkeln des Schnees zu genießen, diesen Morgen mit allen Sinnen einzuatmen. Wir lachen über unsere hundert Meter langen Schatten, die uns von nun an, immer kürzer werdend, begleiten werden auf dem Weg zurück ans Meer. Die Schatten der Pulkas türmen sich ebenfalls meterhoch, die des eigentlich nahezu gespannten Seils zwischen uns schlagen hohe Wellen. Unsere Karawane gibt ein lustiges Bild ab. Der Schnee unter unseren Füßen knirscht, wir alle haben ein Grinsen im Gesicht. Zurück gehts leicht bergab, entsprechend schnell sind wir unterwegs. Die uns überholenden Pulkas bremsen uns kurz aus, bis wir sie – nun auch mit dem Heck eingebunden ins Seil – wieder im Zaum halten. Schon bald sehen wir das Flugzeugwrack als orange leuchtenden Punkt am Horizont auftauchen, kurz darauf die auf der Eisfläche verstreuten blauen Fässer. Die Eisbergriesen auf dem Meer wachsen mit jedem Schritt, die vorgelagerte Insel Avian Island taucht auf, und kurz darauf entdecken wir die Masten und den in der Morgensonne rot leuchtenden Rumpf der Selma. Obwohl wir nur kurz unterwegs waren und die Zeit an Land sehr genossen haben, wird es einem bei diesem Anblick ganz warm ums Herz. Dort unten in dieser unendlichen Weite dieser grandiosen Landschaft liegt unser kleines Boot, unser Zuhause. Schon bald verändert sich das Eis, der Gletscher wird wieder schrundiger, die Station taucht auf und um kurz vor neun haben wir wieder felsigen, festen Boden unter den Füßen.
Kurz war unsere Gletscher Tour auf antarktischem Boden, aber beglückend und schön.
Wir bahnen uns wieder einen Weg hindurch zwischen Pelzrobben und Seeelefanten, bringen nach und nach alles wieder an die Pier. Die Selma hat derweil ihren Ankerplatz verlassen und kommt uns entgegen. Schon bald taucht Ewa mit dem Zodiac auf und wir verfrachten Fahrt für Fahrt alles zurück an Bord.
Ein wenig Zeit bleibt uns noch, die chilenische Base anzuschauen, durch die verlassenen Räume zu streifen. 2014/2015 wurde sie noch einmal genutzt. Vieles sieht so aus, wie gerade erst verlassen, als könne man Küche und Bar direkt wieder in Betrieb nehmen, Dart oder Billard spielen …Ski und Ausrüstung bräuchte man nur aus den Regalen zu nehmen, und im Büro des Commandante liegen noch aufgeschlagene Ordner auf dem Schreibtisch und die Vorräte an Scotch Tape und Pritt Stiften sind unangetastet. Eine unwirkliche Szenerie. Wieder vor der Tür glänzen die Eisberge draußen in der Bucht in der Sonne, Pelzrobben aalen sich auf den warmen Felsen – ein ziemlicher Kontrast zum herumliegenden Müll oder auch der unangetasteten endlosen weißen Weite des Morgens noch ein paar Stunden zuvor.
Wenig später sind wir wieder an Bord der Selma, zuhause sozusagen und freuen uns, den Rest der Crew zu treffen, tauschen bei einem Kaffee die Erlebnisse der letzten Stunden aus.
Wir verstauen all unsere Ausrüstung wieder in den Tiefen des Bootes, und dann, mit Einsetzen des Windes aus Süd, segeln wir weiter. Diesmal jedoch nicht nach Süden, sondern nach Norden.
Am 1. März brachen wir früh zum südlichen Ende der Insel Adelaide und zur chilenischen Basis Teniente Carvajal auf. Diese – ehemals britische, dann an Chile verkaufte – Basis wurde seit dem Winter 2014-15 nicht mehr genutzt. Aufgrund von dichtem Treibeis, Wellengang und Wind mussten wir uns einen Weg zum den Ankerplatz bahnen. Unterwegs, auf dem Weg dorthin, erreichten wir auch den südlichsten Punkt unserer Reise bei 67 47.700 S. Das ist zwar kein nennenswerter Rekord im Allgemeinen, aber einer für die meisten von uns.
Während wir unterwegs waren, bereitete sich das Mountaineering Team auf den geplanten Landausflug vor. Aufgrund der Wettervorhersage entschieden wir uns für eine Tour auf Adelaide Island. Und auch nur für kurze Exkursion für eine Nacht statt der ursprünglich geplanten 2 oder 3 Tage.
Wir packten unsere gesamte Ausrüstung für die Gletschertour, Übernachtung und Essen aus. Zelte, Isomatten, Schlafsäcke, Kocher, Brennstoff und Essen. Nach dem Ankern landeten wir, fuhren das gesamte Equipment in mehreren Fahrten mit dem Zodiac auf die Insel. Wir fanden ein offenes Gebäude auf der Basis, in dem wir unsere Gummistiefel und Schlechtwetterkleidung verstauen konnten und suchten uns einen Ausgangspunkt am Gletscher. Wir liefen an mehreren Gruppen von Pelzrobben vorbei, wurden von ihre Küken schützenden Skuas angeschrien und mit Sturzflügen attackiert, schleppten unsere Ausrüstung an einer Gruppe von riesigen faulenzenden Seeelefanten vorbei und erreichten schließlich den Fuß des Gletschers, der Eiskappe von Adelaide Island: Fuchs Ice Piedmont, Hier schnallten wir endlich unsere Gurte, Steigeisen und Schlitten an.
Wir zogen die Schlitten über den gefrorenen Gletscher bergan und hielten, um die Überreste einer abgestürzten Twin Otter zu begutachten. Jede Menge leere Treibstofffässer lagen auf dem Eis. Die Landschaft wurde immer einsamer und eintöniger, während wir uns Schritt für Schritt zu einem Nunatak (Fels / Berg, der aus dem Eisfeld herausragt) vorarbeiteten.
Wir liefen zu fünft in einer Seilschaft mit Alan an der Spitze. Angeseilt zu sein ist eine Lektion in Geduld, Ausdauer und Wahrnehmung. Der Grund, warum wir angeseilt waren, war der Schutz vor unsichtbaren Gletscherspalten. Wenn eine Person in eine Gletscherspalte stürzt, hängt die Fallhöhe davon ab, wie viel Spielraum zwischen dem Stürzenden und der nächsten Person besteht. Deshalb ist es wichtig, dass das Seil zwischen den Personen möglichst wenig durchhängt. In der Theorie einfach, aber in der Praxis schwierig.
Glücklicherweise waren die Gletscherspalten nicht sehr breit, und wenn jemand in eine Gletscherspalte trat (Gletscherspalten waren mit Schnee bedeckt), rutschten wir glücklicherweise nur bis zum Knie hinein. Man geht möglichst immer im gleichen Tempo, hält an, wenn jemand seine Ausrüstung anpassen muss (meist muss ein Steigeisen nachgezogen werden). Wenn der Hintermann zu langsam / weit hinten geht, zieht es am eigenen Gurt, wenn er zu schnell geht, stolpert man über das lose, schlappende Seil. Manchmal hat man das Gefühl, dass man gleichzeitig vorwärts und rückwärts gezogen wird. All dies muss durch Kommunikation reguliert werden, sonst wird es zu einem nervtötenden, miserablen Spaziergang. Für die Sicherheit des Teams und die eigene Verantwortung ist es wichtig, jederzeit aufmerksam zu sein!
Die Aussicht wurde immer großartiger, je höher wir auf dem Gletscher aufstiegen. Eisberge im Süden und Westen, so weit wir sehen konnten. Weiße Berge, die sich von der grauen, stimmungsvollen See abheben. Es ist eine schwarz-weiß-graue Welt …
Nach 3,5 Stunden Wanderung, gegen fünf, beschlossen wir, unser Lager aufzuschlagen. Unser Zeitfenster war kurz, am nächsten Morgen wollten wir gegen 10 Uhr zurück auf der Selma sein, bevor der Wind auf Süd drehen und das ganze Eis an die Küste drücken würde. Unsere Ziele hatte sich während der gesamten Reise verändert, weiterentwickelt und wir praktizierten maximale Flexibilität. Wir wollten das nehmen, was uns zur Verfügung stand, was möglich war. Wir wollten unterwegs sein, die Abgeschiedenheit genießen, uns für einige Zeit vom Boot lösen, die Umgebung auf uns wirken lassen und uns dafür begeistern. In diesem Sinne haben wir unser Ziel erreicht.
Als wir unser Lager aus zwei Zelten aufschlugen, begann sich der Himmel zu verändern. Von hohen Wolken mit wenig Wind begannen die Wolken, sich auf die Küstenlinie zuzubewegen, die nun gut fünf Meilen hinter uns lag. Da wir uns am äußersten Ende der Insel befanden, war die Hälfte unserer Sicht auf das Wasser gerichtet, die andere Hälfte auf die Berge.
Als die Wolken rasch näher kamen, hatten wir das Gefühl, von ihnen verschlungen zu werden. Als wir mit dem Abendessen fertig waren, war die Sicht fast überall gleich null, wohin wir blickten, war alles rein weiß. Der Horizont verschwand, während der Himmel und das Plateau, der Schnee eins wurden. Whiteout.
Wir krochen gegen halb acht in unsere Zelte und freuten uns auf einen langen Schlaf. Acht Stunden am Stück – mehr als üblicherweise an Bord. Leichter Schneefall setzte ein, die Schneekristalle knisterten auf der Zeltwand, die Temperatur lag irgendwo um die minus 5 bis minus 10 Grad, wir gemütlich in unseren Schlafsäcken. Den meisten von uns blieb ein wirklich erholsamer Schlaf versagt, wir waren oft wach… aber Piotr (der Kapitän) schlief tief und fest.
Um 4.00 Uhr morgens ging es los, die roten Strinlampen erleuchteten das Vorzelt, und die Schneeschmelze für das Frühstück und das Wasser für den Rückweg begann sofort. Wir aßen in unseren jeweiligen Zelten und kamen dann einer nach dem anderen heraus, um die Aussicht zu genießen. Es war klirrend kalt. Der Himmel hatte sich aufgeklart, das Meer in der Ferne sah aus wie zugefroren, war es aber nicht, die Berge waren klar und deutlich. Bis zum Sonnenaufgang würden noch ein, zwei Stunden vergehen. Wir bauten die Zelte ab, verstauten alles auf den Pulkas und machten uns auf den Rückweg vom Plateau. Es fiel ein wenig leichter, da wir nun bergab gingen. Nach einer Stunde kam die Sonne über den Berg, tauchte die weiße Landschaft in warmes Licht, wärmte unsere Gesichter… riesige Schatten wanderten neben uns her. Irgendwann kam die Bucht ins Blickfeld, später das Flugzeugwrack und dann tauchte auch die Selma auf, rot leuchtend in der Morgensonne, ankernd vor Avian Island. Gegen halb neun erreichten wir den Gletscherrand, schnallten Pulkas und Steigeisen ab und hatten wieder felsigen Boden unter den Füßen.
Nachdem wir uns einen Weg zwischen Pelzrobben, Seeelefanten und Skuas gebahnt und unsere Ausrüstung zum Abholpunkt geschleppt hatten, verbrachten wir einige Zeit damit, uns in der verlassenen Chilenischen Basis umzusehen. Der Stützpunkt bot Platz für bis zu 32 Personen und war früher recht groß. Die Briten verkauften die Basis 2003 an Chile. Jetzt dient sie als Zufluchtsort für Seeleute oder anderes Stützpunktpersonal, das sie bei Bedarf nutzen kann (der britische Stützpunkt Rothera ist ein paar Seestunden entfernt).
Während die Berggruppe unterwegs war, ankerte Selma und der Rest der Crew hinter Avian Island. Sie verstauten die Kajaks wieder unter Deck, entspannten sich und genossen Platz an Bord und die Zeit für sich.
Als wir wieder an Bord und alle beisammen waren, setzten wir unseren Kurs nach Norden. Wir fuhren erneut die Ostseite von Adelaide Island hinauf (wir wollten eigentlich außen auf der Westseite der Insel nach Norden, mussten diesen Plan aber wegen der Wettervorhersage und des vielen Eises verwerfen). Bei schönem Sonnenschein und ruhigem Wasser bahnten wir uns unseren Weg durch viele vereiste Gebiete. Dank guter Sicht konnten wir so die Landschaften sehen, die uns auf dem Weg nach Süden wolkenverhangen entgangen waren.
Die Tierwelt ist nach wie vor üppig und vielfältig, Wale werden etwa stündlich gesichtet. Wir stoppten und beobachteten mehrere Buckelwale beim Fressen, die sich nicht allzu sehr an unserer Anwesenheit störten, aber auch nicht zu nahe kamen. Robben auf den vorbei treibenden Eisschollen: Weddellrobben, Pelzrobben, Leopardenrobben und jetzt auch Krabbenfresserrobben. Antarktische Seeschwalben, Skuas, Dominikanermöwen, Kormorane – sie alle erheben sich in die Lüfte und schweben über dem Meer.
Wir waren auf dem Weg zurück, nordwärts. Fuhren über Nacht weiter, nutzten das Eislicht am Bug und bahnten uns langsam unseren Weg, teils durch enge Kanäle, die fast mit Treibeis und Eisbergen verstopft waren. Pfannkucheneis bedeckt nun öfter das Wasser, die Temperaturen bewegen sich um den Gefrierpunkt. Es wird Herbst. Wir segeln durch die gleiche Gegend, aber jetzt in anderer Kulisse.
Vor zwei Tagen sind wir aufgebrochen von Vernadsky. Die Pause tat uns gut, doch nun wollen wir weiter. Für die meisten Antarktis-Reisenden ist spätestens hier auf Höhe der Ukrainischen Station oder sogar etwas nördlich nach der Durchfahrt des Lemaire Channel, bei Petermann Island Schluss, der südlichste Punkt erreicht und Zeit umzukehren. Nicht jedoch für uns. Wir haben Zeit und Lust, weiter nach Süden vorzudringen. Adelaide Island heißt unser Ziel.
Über den Polarkreis nach Süden
Zum einen bieten sich dort eventuell einige Möglichkeiten für das Mountaineering Team, sich ein paar Tage an Land auszutoben. Zum anderen haben wir Ivan mit an Bord genommen, Biologe aus Vernadsky. Und für diesen ist unser Weg nach Süden eine seltene und wunderbare Möglichkeit, seiner Leidenschaft und Wissenschaft – der Erforschung von antarktischen Pflanzen, insbesondere Moosen – nachzugehen und unterwegs an ausgewählten Orten Proben zu sammeln.
Wir wollen möglichst schnell Richtung Süden in die Marguerite Bay zwischen Adelaide Island und Peninsula / Festland. Das Wetter zeigt sich nicht gerade von seiner besten Seite: es ist trüb, grau und nass. Dazu 30 Knoten Wind, das Wasser – fast schwarz – ist mit kleinen weißen Schaumkrönchen und zahlreichen Eisbergen und Bergy Bits gespickt. Nach vier Stunden blickt man dennoch meist in lachende Gesichter der vor Nässe triefenden Wachhabenden. Das Wetter macht uns auch das Ankern am Abend nicht gerade leicht, ein erster Versuch bei Marie Island scheitert am für den Platz zu starken Wind aus zu falscher Richtung, andere Optionen müssen wir aufgrund zu großer Tiefe verwerfen. So segeln wir weitere zwei Stunden südwärts, bis dann endlich nahe Cape Bellue in einer Bucht der Anker fällt und hält.
Es ist weiter nass und grau, als wir am Mittwoch gegen zehn Uhr den südlichen Polarkreis auf 66 Grad 33´ 55´´ überschreiten. Ein Grund, die Flasche Rum auszupacken und anzustoßen. So eng war’s noch nie im Ruderhaus. Meine Wache hat gerade begonnen, und so habe ich das Glück und die Ehre, während dieses besonderen Ereignisses am Steuer zu stehen, aber auch ich kriege ein Glas in die Hand gedrückt und teile meinen Rum mit Neptun.
Das Grau bleibt uns auch südlich des Polarkreises erhalten, gepaart mit ordentlich Welle aber auch ausreichend Wind, und wir können für gut vier Stunden die Segel setzen, bis wir den Norden von Adelaide Island erreichen. Wir halten uns entlang des Festlands, passieren die Isacke Passage, Hanusse Bay und den engen Gunnel Channel östlich von Hansen Island. Die Wolken hängen tief, das wenige, was wir von der Landschaft entlang von Hinks und Lawrence Channel erhaschen können, ist eisig und vergletschert. Der Wind aus Nordost frischt auf knapp 40 Knoten auf, die Suche nach einem Ankerplatz für die Nacht gestaltet sich erneut nicht ganz leicht, doch wir finden eine kleine Bucht. Die Einfahrt ist kaum erkennbar, Eisberge sitzen auf einer vorgelagerten Moräne fest. Erst im zweiten Versuch hält der Anker, wir haben 80 Meter Kette gesteckt.
Die Nacht wird leider extrem unruhig. Ständig treibt Eis durch die kleine Bucht, erst hinein, dann wieder hinaus, die bei der Ankunft festsitzenden Eisberge sind dank der Tide ebenfalls wieder unterwegs. Die Ankerwache hat extrem viel zu tun, die Selma davon halbwegs freizuhalten. Immerhin haben wir Unterstützung vom Mondlicht. Auch der Anker zerrt an der Kette, der Alarm springt mehrfach an, nicht nur einmal denken wir, jetzt reißt er aus. Dies bewahrheitet sich glücklicherweise nicht, dennoch findet kaum jemand an Bord wirklich Schlaf, und nach einer kurzen Nacht brechen wir früh wieder auf, bevor noch mehr Eis in die Bucht treibt und die Ausfahrt versperrt.
Um vier gibts einen Kaffee, um fünf im Morgengrauen wird der Anker gelichtet. Am Vormittag kommt die Britische Station Rothera in Sicht. Alan war vor einigen Jahren hier als Field Guide und funkt die Station an. Leider erhalten wir trotz dieses vermeintlichen Bonus keine Genehmigung, die Base anzulaufen.
Leonie Islands
In der Ryder Bay setzen wir Ivan auf Leonie Island ab. Während er dort nach Moosen sucht, ankern wir vor Lagoon Island und setzen mit dem Zodiac über. Rothera bittet uns über Funk, nach Anzeichen für das Vogelgrippe Virus Ausschau zu halten. Beim Betreten der Insel riecht es ziemlich übel nach Verwesung. Fünf noch nicht allzu lang tote Skuas liegen in einem engen Bereich um eine kleine Lagune. Dies könnte ein Zeichen für das Virus sein, es sind Altvögel, allesamt ohne erkennbare äußere Verletzungen. Doch als Grund für den üblen Geruch machen wir wenig später eine größere Gruppe Seeelefanten aus, die hier faul, dösend und verdauend liegen. Ein großer Haufen eng aneinander geschmiegter, riesiger, brauner Leiber. Daraus erhebt sich ab und an mal niesend oder rülpsend kurz ein Kopf, schaut uns Störenfriede mit riesigen Kulleraugen an, um unmittelbar danach wieder in die kuschelige Enge der anderen abzutauchen. Oder eine Flosse wird ausgestreckt, um Bauch oder Rücken zu kraulen. Herrlich, dieser Ruhe und Gemütlichkeit zuzuschauen, die nur gestört wird, wenn eines der Tiere meint, sich umdrehen zu wollen, worauf sich die Nachbarn zunächst prustend beschweren, um dann wieder langsam ihre schwerfälligen Körper zurecht zu ruckeln. Schwerfällig sind sie allerdings nur an Land – im Wasser bewegen sich die massigen Tiere erstaunlich elegant und schnell. Das beweist uns ein Exemplar, welches urplötzlich direkt vor uns auftaucht, während wir am Ufer auf das Zodiac warten, um vor Schreck über unsere Anwesenheit unmittelbar darauf wieder abzutauchen und schnell das Weite zu suchen.
Kajakausflug
Wir beschließen, hier die Nacht zu verbringen. Deshalb haben wir noch Zeit für einen Ausflug rund um die Inseln. Ein Teil wählt das Zodiac. Unda, Gerhard, Karen und ich brechen mit drei Kajaks auf. Wir erpaddeln uns ein paar schöne Eisberge und türkisblaue Eisschollen und entdecken eine kleine Bucht, in der wir Pinguine, Weddellrobben und Seeelephanten aus nächster Nähe beobachten können. Doch sie nehmen keine Notiz von uns. Als wir gerade wieder Richtung Selma zurück wollen, entdeckt Karen drei Wale, die offenbar in unsere Richtung unterwegs sind. Erst am Vortag erzählte mir Unda noch von ihrem Wunsch, mit dem Kajak Walen zu begegnen. Mit ihnen zu Paddeln. Auf Augenhöhe sozusagen. Und nun folgte genau das. Eine Stunde Wale Watching vom Feinsten. Die Kurslinien der Wale und unserer Kajaks kreuzten sich im richtigen Augenblick, und wir erlebten einen der wunderbarsten und bewegendsten Momente dieser Reise. Aber davon hat Unda bereits so schön geschrieben.
Die Begegnung mit diesen drei Buckelwalen, besonders der Moment, in dem einer von ihnen genau am Bug unseres Kajaks empor und unmittelbar vor meinen Füßen und neben uns auftauchte, sein Kopf, der riesige Körper, schwarzglänzend, zum Greifen nah … das war im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend schön.
Wir waren merkwürdigerweise weder erschrocken, noch hatten wir Angst – dazu war einfach gar keine Zeit. Aber es dauerte einen Moment, bis wir wieder zu atmen wagten, wirklich begriffen, was da gerade eben geschehen war, welches unfassbare Glück wir hatten, dass sich der Wunsch von Unda auf so wunderbare Weise erfüllte.
Auch Ivan, den wir am Abend auf Leonie Island wieder abholten, war glücklich über seine Ausbeute: die vielen Proben an Moosen, Flechten, Gräsern. Eigentlich war uns nach diesem Tag zum Feiern zumute. Aber ein kleines Glas Wein muss an diesem Abend reichen, denn am nächsten Morgen wollen wir wieder ganz früh den Anker lichten und aufbrechen. Zur Südspitze von Adelaide Island, wo wir endlich zur lang ersehnten Mountaineering Tour starten wollen.
Vor drei Tagen schon haben wir die Kajaks aufgebaut. Pjotr hatte sich von der SY Podorange inspirieren lassen, wo wir diese an Deck gut festmachen können. Das Dinghi hat ein wenig Platz gemacht und nun kuscheln sie an steuerbord auf dem Vordeck, passen mit ihrem Rot auch wunderbar zur Selma.
Am besten sind sie natürlich im Einsatz, da haben sie sich schon zweimal gut bewährt.
Den ersten Test haben Ursula und ich auf Hovgaard Island unternommen. Während die anderen auf einer Schneeschuhwanderung unterwegs waren, haben wir es ruhiger angehen lassen, sind zwischen flachen Felsen und Eisbergen gepaddelt und haben die Stille genossen. Wir freuen uns immer wieder neu über jede Pinguinbeobachtung, es ist unmöglich, nicht zu lächeln wenn wir diese drolligen Tiere sehen. Vom Kajak aus, lautlos und auf Augenhöhe, uns ganz viel Zeit lassend, ist es besonders intensiv. Ursula ist zum ersten Mal in ihrem Leben paddelnd unterwegs und verliebt sich sofort in diese Art der Fortbewegung, welcher ich schon lange verfallen bin.
Aus der Ferne hat Woij im Dinghi ein Auge auf uns, könnte in kurzer Zeit bei uns sein, falls wir seine Hilfe benötigen oder der Seeleopard zu viel Interesse zeigt. Aber wir fühlen uns wohl und sicher und freuen uns erst am Ende über eine flotte Rückfahrt, bei welcher Woij uns ans Schlepptau nimmt.
Wir haben wohl ziemlich geschwärmt von unserem Ausflug, denn zwei Tage später sind alle sechs verfügbaren Kajakplätze besetzt, als wir von Vernadzky-Station zunächst zum Wordie-House und danach auf einem Ausflug um Galindez Island unterwegs sind. Diese Runde ist etwas länger, aber die Kajaks erweisen sich als stabil, bequem und mit einem guten Geradeauslauf. Etwa drei Stunden sind wir unterwegs und genießen unseren Ausflug.
Während ich diesen Text schreibe, sind wir schon weiter auf dem Weg nach Süden Richtung Adelaide Island unterwegs und hoffen, unsere Kajaks dort intensiv nutzen zu können. Mein Traum ist es, dann einem Wal zu begegnen, auf Augenhöhe sozusagen. Wir werden sehen 😉
Mit Walen auf Augenhöhe
Zwei Tage später sind wir im Kajak auf kleiner Erkundungsfahrt vor Lagoon Island, als wir drei Buckelwale in den kleinen Sund zwischen den Inseln schwimmen sehen. Sie sind langsam unterwegs, fressend vielleicht.
Wir fangen sofort an zu paddeln, eine gedachte Linie, auf welcher sich unsere Wege schneiden könnten und der Plan geht auf. Immer näher kommen wir ihnen, sind bald nur noch wenige Kajaklängen von ihnen entfernt, dann zwischen ihnen. Wir sehen mal den einen links und einen anderen rechts von uns, hören sie blasen, beobachten sie beim Auf- und Abtauchen. Wir sind fasziniert und aufgeregt, wagen kaum zu atmen und versuchen gleichzeitig, zu paddeln, überall hin zu schauen und zu fotografieren.
Die Buckelwale sind sehr nah, scheinen jedoch keine Notiz von uns zu nehmen. Plötzlich jedoch taucht einer direkt am Boot auf, berührt es am Bug, macht beim Abtauchen eine Welle, die unsere zwei kleinen Kajaks ordentlich schaukeln lässt. Ob aus Interesse an uns oder aus Versehen, wissen wir nicht, und es spielt auch keine Rolle. Wir sind absolut überwältigt, glücklich, voller Adrenalin. Wir wissen gar nicht wohin mit all den Gefühlen, welche uns gerade überfluten, schauen uns an und sind froh, dieses Erlebnis teilen zu können und in den Gesichtern der Anderen die gleiche Faszination zu sehen, die wir selbst gerade erleben.
Glücklich und voller Dankbarkeit für dieses Geschenk beachten wir die drei Wale noch eine kurze Weile, bevor diese weiter ziehen und wir zur Selma zurückkehren.
Bevor man Vernadsky, die Ukrainische Station, sehen kann, kann man sie riechen. Zumindest vorgestern nachmittag, als wir ankamen, trieb uns der Wind den Geruch der hier ansässigen Gentoo Pinguinkolonie (Eselspinguine) schon aus der Ferne entgegen. Bald darauf tauchten nicht nur jede Menge Pinguine im Wasser und an Land auf und zwischen den Felsen auf, sondern auch die Stationsgebäude.
Vernadsky Base
Wir haben hier zwei Tage Pause eingelegt, uns vor dem Sturm aus SW versteckt, Energie, Wasser und Diesel getankt und die Ukrainer besucht. Die Station ist für ihre Gastfreundschaft kleinen Segelyachten gegenüber bekannt. Die Selma und Piotr sind nach vielen Jahren gern gesehene Gäste, Piotr hat hier enge Freunde.
In einer kleinen Bucht nahe der Station liegt man ruhig und geschützt. Bei der Einfahrt begrüßte uns der hier ansässige Seeleopard und trieb auf seiner Scholle an uns vorbei. Das erste Mal während der Reise werfen wir nicht nur den Anker, sondern bringen auch vier Landleinen aus. Knapp zwei Stunden sind wir damit beschäftigt. An Land werden geeignete Fixpunkte in Form von Felsen oder großen Steinen gesucht, Schlingen gelegt, Schwimmleinen mit dem Dinghi ausgebracht, an den Fixpunkten befestigt und dann von Deck aus so lange nach und nach dicht geholt, bis alles passt und die Selma sicher vertäut ist. Gerade als wir damit fertig sind, biegt eine andere Yacht, die Mon Coeur in die Bucht und legt sich neben uns ins Päckchen. Gennadi, der ukrainische Skipper, ist ebenfalls ein guter Bekannter von Piotr. Er hat die Mon Coeur vor Jahren wieder seefest gemacht, um- und ausgebaut. Stolz erzählt er davon, zeigt uns später sein Boot bis in den letzten Winkel. Alles ist größer und komfortabler als auf der Selma. Allein der Maschinenraum, im dem gleich zwei Mr. Perkins ihren Dienst tun, ist so groß wie unser ganzer Salon. Die Kabinen haben je ein eigenes Bad, die Küche ist riesig, es ist warm. Viel zu warm für unsere Verhältnisse. Wir sind froh, später wieder auf der Selma zu sein, wir haben uns an die 10-15 Grad unter Deck gewöhnt und lieben sie genau so wie sie ist.
Herzlich Willkommen
Piotr ist abends auf die Station eingeladen. Es ist ein besonderer Tag. Es ist der 24. Februar. Heute geht der russische Angriffskrieg in der Ukraine ins dritte Jahr. Das ist hier auf der Station natürlich extrem präsent, obwohl die Heimat unerreichbar weit entfernt ist: 15.168 km sind es bis Kyiv. Doch viele der derzeit 26 hier arbeitenden Stationsmitglieder waren vor der Saison an der Front und / oder müssen nach dem Wechsel im April an diese zurück. Alle bangen um ihre Familien und Freunde in der Heimat. Diese schmerzhafte Realität begleitet die Menschen hier tagtäglich und an diesem Tag ganz besonders. Sie holt damit auch uns in unserer glücklichen und friedlichen „Blase“ unterwegs an Bord der Selma ein. Wir sind hier unten tief im Süden zwar am Ende der Welt, aber noch immer ein Teil von ihr.
Umso bewegender sind die warme Herzlichkeit, mit der wir empfangen werden und die Gastfreundschaft, die uns hier in diesen zwei Tagen entgegenschlägt: wir bekommen jede Menge frisches Brot und einen großen Topf Borschtsch, eine ausführliche Führung durch die gesamte Station und Einblicke in deren Geschichte und Forschungsarbeit. Seit 1996 wird die ehemals Britische Station von der Ukraine betrieben, benannt ist sie nach dem ukrainischen Geologen, Mineralogen, Geo- und Biochemiker Vernadsky.
Historische Bilder an den Wänden füllen die Gänge der Station, die Gruppenfotos der jeweiligen Überwinterer-Teams der Stationsgeschichte – egal ob britisch oder ukrainisch – hängen im Treppenaufgang zum Obergeschoss. Wir dürfen einen Blick in die Labors der Biologen, Seismologen, Geologen, Meteorologen … werfen. Wir bekommen den Hauch einer Ahnung der komplexen Zusammenhänge zwischen Klimaveränderungen, wärmeren Temperaturen, migrierenden Pinguinen, deren Guano, dem darauf folgenden Bewuchs erstbesiedelnder Algen … und den sich dadurch verändernden Inseln und Landschaften der Antarktischen Halbinsel. Die Station, die sich Galindez Island mit einer seit Jahren wachsenden Kolonie von Gentoo Pinguinen teilt, kann ein Lied davon singen.
Wellness
Das beste aber sind die heiße Dusche und der anschließende Besuch in der Sauna.
Ausgiebig genießen wir nach langer Zeit den Luxus fließend warmen Wassers. Die Frauendusche der Station ist derzeit mangels weiblicher Belegschaft meist ungenutzt, bzw. wird sie als Zwischenlager für verschiedenewissenschaftliche Proben genutzt – neben unseren Klamotten stapeln sich zahlreiche nummerierte Tüten. Ein neugieriger Blick offenbart den Inhalt: es sind Ivans Moose, die hier auf weitere wissenschaftliche Untersuchung warten.
Die Sauna – oder banja – ist aber das Größte! Eine kleine Holzhütte auf einem Felsen, circa. 300 Meter vom Stationsgebäude entfernt wartet auf uns. Es gibt zwei Möglichkeiten, dorthin zu kommen: auf dem Landweg mitten durch die Pinguinkolonie oder per Boot. Wir wählen den Seeweg und das Dinghi. Eine abenteuerliche, etwas verwitterte Holzleiter führt einen Felsen hinauf zur Hütte. Die Stufen sind glitschig, ebenso wie der Vorplatz. Das kleine Holzdeck wird, wie die Leiter auch, ab und an auch von Pinguinen genutzt, die überall um uns herum, direkt neben und hinter der Sauna stehen, liegen, rufen. Die Szenerie ist einfach unglaublich.
Wir entledigen uns schnell unserer Gummistiefel und Klamotten und schlüpfen hinein in die wohlige Wärme. Genießen die 90 Grad trockene, knackende Hitze, den dampfenden Aufguss. Stehen danach dampfend draußen in der frostigen Kälte. Überlegen kurz und kraxeln dann die glitschigen Stufen hinab, über die Felsen und wagen den Tauchgang im antarktischen Ozean. Sind hinterher elektrisiert, voller Energie, alles prickelt wie tausend feine Nadeln. Stehen grinsend, ein kühles Bier und den Blick auf Meer, Eisberge, Pinguine genießend draußen in der Dämmerung. Wärmen uns auf in der Hütte und schlüpfen dann erneut an den heißen Ofen auf die hölzernen Bänke. Dreimal gönnen wir uns diesen Luxus, bevor wir sauber und warm wie schon lange nicht mehr hinüber wechseln in die Bar der Station. Hier werden wir mit Musik, Getränken und einem kleinen Buffett empfangen. Es wird ein wunderbarer Abend gemeinsam mit unseren ukrainischen Gastgebern und der Crew der Mon Coeur – bei Bier, Wein, Cocktails, Pool Billard, anregenden und bewegenden Gesprächen, die uns nicht nur während der mitternächtlichen Überfahrt zur Selma begleiten.
Wordie House
Wir starten mit einem späten, üppigen Frühstück in den nächsten Morgen und freuen uns auf einen Tag hier in Vernadsky. Kein Anker lichten, keine Wachen, keine kalten Stunden am Ruder… einfach ein ganzer Tag Pause. Frei sozusagen. Naja, nicht ganz. Zunächst bekommen wir eine Lieferung Treibstoff. Vier schwere 200 Liter Fässer Diesel werden an Deck gewinscht. Während Piotr sich in den folgenden Stunden um das Umfüllen in unsere Tanks kümmert, brechen wir zu einem Kajak-Ausflug auf.
Wir paddeln zum benachbarten Wordie House auf Winter Island. Die ehemalige Britische Forschungsstation Faraday ist ein historisches Denkmal aus den frühen Zeiten der wissenschaftlichen Antarktisgeschichte, wurde 1947 erbaut, 1954 bereits wieder geschlossen. Namensgeber des ehemaligen Hauptgebäudes der Station F war James Wordie, schottischer Polarforscher und Geologe, der u.a. als wissenschaftlicher Leiter an Shackletons Endurance Expedition teilnahm. Das Gebäude steht auf den Fundamenten einer früheren Hütte der britischen Graham Land Expedition 1935-1936.
Heute ist Wordie House ein kleines Museum: Als Besucher begibt man sich auf eine Zeitreise, 70 Jahre zurück in die Anfangszeit der britischen Antarktis Stationen. Die Räume, allesamt im Originalzustand bieten einen kleinen Einblick in die wissenschaftliche Arbeit und das Stationsleben. Davon zeugen historische Messgeräte und wissenschaftliches Material in den Arbeitsräumen, die Werkstatt oder Ausrüstung wie Tauchgeräte, Schneeschuhe, Hundegeschirre. Die Küche samt Vorräten und Lebensmitteln wäre noch einsatzbereit. Der angrenzende Salon ist Wohn- und Schlafraum in einem. Die Jacken hängen teils noch an den Betten, Schuhe stehen im Regal. Spiele, Bücher, Darts oder die Gitarre haben in den langen, dunklen Wintermonaten für Abwechslung gesorgt. Ich liebe diese Zeitreisen, atme gern den Geruch vergangener Epochen, der noch immer in den Räumen hängt. Manchmal meint man, noch die Anwesenheit derer, die hier einst lebten, spüren zu können.
Ein kurzer Aufstieg auf den benachbarten Gletscher und Gipfel von Winter Island bietet einen schönen Rundumblick auf die Station und die Argentine Islands. Danach geht es weiter im Kajak zwischen und rund um die Inseln, entlang von gletscherblauen Eisbergen, springenden Pinguinen, vorbeisegelnden Kormoranen (Arctic Shag) und faul auf vorbei treibenden Schollen liegenden Krabbenfresser- und Weddellrobben. Auch den Seeleopard treffen wir wieder, diesmal zeigt er jedoch kein gesteigertes Interesse an uns. Nach vier Stunden passieren wir wieder die Station und kehren auf die Selma zurück.
Crew Erweiterung
Am Nachmittag bricht das Mountaineering Team noch einmal auf zum benachbarten Gletscher. Safety Training steht auf dem Programm. Alan, der regelmäßig in Schottland für die Mountain Rescue im Einsatz ist, übt geduldig mit uns verschiedene Spaltenbergungstechniken. Nach knapp drei Stunden sind wir durchgefroren und beenden unsere Übungseinheit.
Die Selma liegt mittlerweile nahe des kleinen Holzpiers der Station und hat Frischwasser gebunkert. Wir rücken zusammen, räumen unsere Vorräte um und machen Platz in der Achterkabine um Ivan mit an Bord zu nehmen. Der Biologe wird uns ein paar Tage begleiten, unser Weg nach Süden ist für ihn eine prima Gelegenheit, an abgelegenen Stellen, die sonst außerhalb seiner Reichweite liegen, nach Proben zu suchen. Derweil bleibt unsere Unterwasserdrohne in der Station, um dort die Wissenschaftler zu unterstützen.
Morgen geht es weiter nach Süden. Mit nun 12 Mann an Bord, neu eingeteilten Wachen, Forscherdrang und jeder Menge Neugier. Und der schönen Gewissheit, dass wir demnächst erneut wieder hier an diesem wunderbaren Ort vorbeikommen werden – mindestens, um Ivan abzusetzen. Vielleicht aber auch, um noch ein weiteres Mal in den Genuss der herzlichen ukrainischen Gastfreundschaft und der schönsten Sauna der Welt zu kommen.
Wir verlassen den unglaublich schönen aber unruhigen Ankerplatz im frühen Morgengrauen. Direkt um die Ecke wartet die spektakuläre Einfahrt in den Lemaire Channel auf uns. Diese sechs Kilometer lange Meerenge zwischen der Halbinsel und der vorgelagerten Booth Insel ist sehr schmal, an ihrer engsten Stelle misst sie nur 720 m Breite. Für uns kleine Yacht allemal viel Platz, auch wenn wir aufgrund des vielen Eises ordentlich Slalom fahren müssen. Große Kreuzfahrer entgegen kündigen ihre Durchfahrt auf Funk an, da jeweils nur ein Schiff den Kanal passieren kann. Zu beiden Seiten des Kanals erheben sich die Berge auf bis zu 1.000 Meter Höhe. Gepaart mit zahlreichen Gletschern eine spektakuläre Kulisse, die die Durchfahrt zu einem beeindruckenden Erlebnis macht.
Auf der Südseite erwarten uns zahlreiche blaue Eisberge, und Hovgaard Island – eine größere Insel inmitten einer sich hier west- und südwärts ausbreitenden Schärenlandschaft aus zahlreichen kleinen, meist flachen Inseln. Gegen neun Uhr fällt der Anker. Die Insel ist von einer sanft gerundeten, schneeweißen Gletscherkappe bedeckt. Deren 368 Meter hohen Gipfel will ein Großteil von uns besteigen. Unda und Ursula ziehen derweil eine kleine Tour im Kajak zu den benachbarten Pinguinen vor.
Wir packen die Schneeschuhe ins Zodiac und werden während der Überfahrt zur Insel wie bereits bei Astrolabe Island von einem neugierigen Seeleoparden begleitet und verfolgt. Etwas zu neugierig für unser Empfinden, beginnt er doch nach einiger Zeit immer wieder die Seitenwände des Dingis mit Kopf und Körper zu streifen, taucht unter uns hindurch, schwimmt uns wieder an … Im glasklaren Wasser ist er gut zu sehen, seine Kraft und Eleganz sind beeindruckend, sein aus der Nähe riesiger Kopf und das plötzlich geöffnete Maul sind es auch. Wir haben erneut das Bild dieser spitzen Zähne im orangefarbenen Gummi vor Augen und beschleunigen. Der Seeleopard auch. Und er ist schnell – klar, schließlich jagt er mit Vorliebe pfeilschnelle Pinguine. Wirklich abschütteln können wir ihn nicht. Wir sind froh, als wir an Land kraxeln, wünschen Voj eine gute Rückfahrt, ziehen unsere Schneeschuhe an und sind startklar.
Knapp anderthalb Stunden brauchen wir für den Aufstieg auf den von unten so unscheinbar aussehenden Hügel. Kleine schwarze Punkte in der weißen, weiten Landschaft. Der Gletscher ist schneebedeckt. Je höher wir kommen, umso schöner der Ausblick auf die Schärenlandschaft, die unzähligen blauweißen Eisberge, die Eiswürfeln gleich im Meer treiben, auf das südliche Portal des Lemaire Channels und die Gipfel der Antarktischen Halbinsel, die leider größtenteils in höheren Wolkenschichten verborgen bleiben. Und ganz klein da unten, zwischen all dieser Pracht liegt unsere rote Selma.
Es tut gut, mal wieder ausgiebig die Beine zu bewegen und wir genießen die Abwechslung dieser Schneeschuhtour sehr. Wieder zurück an der Küste interessiert sich ein Skua für unsere Schneeschuhe, und wir entdecken ein altes Depot, noch immer gefüllt mit Vorräten und Notfall-Equipment. Alan identifiziert es aufgrund seines Inhaltes und der Farbcodierungen als eindeutig britisch. Auf dem Rückweg bleiben wir diesmal unbehelligt, Voj und wir nehmen mit dem Zodiac eine andere Strecke, um dem Seeleoparden nicht erneut sein Revier streitig zu machen.
Nach einer Stärkung lichten wir den Anker und brechen auf, Kurs Süd. Circa zwei Stunden sind es bis zur ukrainischen Vernadsky Station. Das ist unser nächstes Ziel. Hier wollen wir Piotrs Freunden einen Besuch abstatten und eine zweitägige Pause einlegen, um etwas Ruhe zu finden und dem angesagten Starkwind der nächsten Tage aus dem Weg zu gehen. Wir sind gespannt.
Am nächsten Morgen brechen wir auf, wir wollen weiter auf dem Weg nach Süden. Die argentinische Station Almirante Braun lassen wir schnell im Kielwasser zurück. Noch ist es grau und trüb, aber im Ferguson Channel kommt die Sonne raus. Und bald haben wir auch gute 20 Knoten Wind aus SW. Wir setzen die Segel und die Selma ist in ihrem Element. Zwischen der Halbinsel und Wiencke Island genießen wir das Segeln und kreuzen uns Wende für Wende nach Süden. Endlich haben wir mal Gelegenheit, dies bei guten Bedingungen und halbwegs ohne permanente Eis Kollisions Gefahr zu üben. Es macht einen Heidenspaß. Wir segeln in die Flanders Bay und dann westwärts zum Cape Renard. Der Wind nimmt ab, das Eis zu. Wir tauschen die Segel gegen Mr. Perkins, fahren wieder Slalom und bestaunen die unzähligen Eisgebilde und Eisberge um uns herum – einer schöner als der andere, Blautöne, die so tief sind, dass man darin versinken mag.
Am Cape Renard wird die unendlich schöne Szenerie komplettiert durch zackige, alpine Gipfel und Gletscher, ein paar wenige Pinguine und die ein oder andere Weddellrobbe und Leopardenrobbe auf einer vorbeitreibenden Scholle. Mit dem Zodiac fahren wir später noch durch ein Labyrinth aus dichtem und bewegten Eis, um uns die Robben ganz aus der Nähe anzuschauen. Die Mühe wird belohnt – obwohl gemütlich vor sich hin dösend, nehmen sie Notiz von uns, heben immerhin ihre Köpfe und würdigen uns eines kurzen Blickes, bevor sie wieder ihre gemütliche Schlummerpose einnehmen.
Cape Renard bleibt unser Ankerplatz für die Nacht. Die Sonne macht langsam der Dämmerung Platz, die Wolken am Himmel glühen in dramatischem orangegold über den Gipfeln.
So ruhig und schön der Abend ausklingt, so anstrengend wird leider die Nacht. Die Kombination aus viel Eis, viel Strömung in der Bucht, Tide und immer wieder drehendem Wind hält die Eiswache permanent auf Trab. Eisberge kommen herein, und kaum dass man sie an der Selma vorbei gelotst hat, dreht der Wind und / oder ändert sich die Strömung und sie treiben zurück und erneut auf uns zu. Wir konzentrieren uns nur noch auf die größeren Brocken. Im fünf Minuten Takt wird die Stange bemüht und werden Schollen und Bergy Bits versucht, auf Abstand zu halten. Bei derart starker Strömung und Geschwindigkeit des Eises klappt das nicht immer. Und ab einer gewissen Größe hat Mensch sowieso das Nachsehen. Dann müssen Skipper und Mr. Perkins in Personalunion ran. Viel Schlaf kommt dabei nicht herum, weder an Deck, noch in den Kojen, in denen das andauernde Gerumpel an Deck und entlang der Bordwand so manchem den Schlaf raubt.
Wir setzen Kurs Süd. Lassen Tower Island und Trinity Island steuerbords liegen. Das ungemütliche Wetter und zahlreiche Eisberge bleiben unsere Begleiter. Am Bug werden Strahler für die Nacht installiert. Abends beginnt es zu schneien. Im Licht der Bugscheinwerfer verweht der kräftige Wind die Schneeflocken zu weißen horizontalen Streifen, stroboskopartig. Die Sicht ist gleich Null. Wir lassen die Lampen aus und starren lieber ins Dunkel. Mit Hilfe des Radars arbeiten wir uns durch die Nacht nach Süden. Das Morgengrauen lässt sich Zeit. Die Wache am Ruder wird zur Geduldsprobe. Nur langsam tauchen die ersten Schemen der Eisberge aus der Dunkelheit auf, so dass wir uns endlich wieder auf unsere Augen verlassen können. Der Schnee der vergangenen Nacht bedeckt weiß und nass alles an Deck. Schnee schippen ist angesagt.
Mit dem Tageslicht kommt die Helligkeit zurück, es klart etwas auf, sogar die Sonne lässt sich etwas blicken. Wir nähern uns langsam dem gut besuchten Teil der Antarktis und treffen ab und an ein Kreuzfahrtschiff. In der Mehrheit sind es jedoch Wale, die wir in der Gerlache Strait sichten. Sie kommen uns meist entgegen, ziehen in einiger Entfernung nordwärts an uns vorbei. Oft einzeln, manchmal zu zweit, im Viertelstundentakt. Irgendwann hören wir auf zu zählen und der laute Ruf des Rudergängers „Wal“ ertönt nur noch selten.
Wir stoppen am Nachmittag kurz in Cuverville Island. Die Sonne strahlt über einer alpinen Gletscherkulisse. Die Szenerie ist fantastisch, Pinguine rufen und springen um die Wette, auf der Insel leuchten farbenprächtige Flechten und Moose. Wir treffen die Spirit of Sydney und ankern in deren Nähe. Die Yacht von Darrel wäre auch eine Option für uns gewesen – wir sind jedoch sehr froh, uns für die Selma entschieden zu haben.
Auf einer kleinen Insel liegt das Wrack eines kleinen Holzbootes neben einer im Gegensatz dazu riesigen rostigen Kette – die Frage, wie beides zusammen passt, lässt sich nicht beantworten, wahrscheinlich sind es Überbleibsel aus Walfängerzeiten. Auf Cuverville lebt eine Gentoo Pinguin (Eselspinguin) Kolonie. Wir gehen an Land und haben Zeit, das bunte Treiben zu beobachten. Auch hier wieder zahlreiche Küken, die hungrig ihren Eltern hinterher eilen, unentschlossene Schwimmer, neugierige Exemplare, die sich über uns merkwürdige Riesenpinguine wundern mögen. Ein Pinguin Highway – eine schmale Schneise im Schnee – führt den Hügel hinauf. Es sieht lustig aus, wenn die kleinen Kerle hinauf wandern, vor allem, wenn sie sich entgegen kommen und entscheiden, wer zuerst am anderen vorbei darf.
Die Ausfahrt aus der Bucht ist äußerst eisig und kostet entsprechend viel Zeit. Wir passieren den Errera Channel und die Graham Passage. Schmal, links und rechts alpin aufragende, von Gletschern bedeckte Gipfel. Um Mitternacht fällt der Anker in Hidden Bay, südlich von Paradise Bay, eine klitzekleine Bucht, von Gletschern umgeben. Hier verbringen wir gut geschützt die Nacht. Die Ankerwache ist diesmal besonders schön: der Vollmond verschwindet hinter dem Gletscher und macht einem klaren Sternenhimmel Platz, der sich über dem Firmament und zwischen den Masten der Selma aufspannt. Das Eis um uns herum bleibt meist ruhig, nur im Gletscher kracht und knallt es ab und an, irgendwo geht eine kleine Lawine ab, man hört es rumpeln und Minuten darauf die Welle in die Bucht rauschen. Die Selma schaukelt leicht hin und her und wiegt uns sanft in einen wohlverdienten Schlaf.
Nun sind wir seit drei Tagen auf der Westseite der Antarktischen Halbinsel unterwegs. Und – verglichen mit der Ostseite – in einer anderen Welt. Sowohl Landschaft, als auch Wetter haben sich verändert.
Nach Start am Dienstag Morgen in der Hope Bay, Antarctic Sound, sind wir Tag und Nacht durchgesegelt. In der Bransfield Strait ist es grau, kalt und nass geworden, immer wieder regnet es. Wind um die 20-25 Knoten aus SW. Wir haben zunächst Kurs Richtung South Shetlands gesetzt, kreuzen später südwärts. Unser Ziel Astrolabe Island taucht im Morgengrauen aus dem Nebel auf. Eine Kolonie Chinstrap Pinguine (Kehlstreifenpinguine) nistet hier. Das Anlanden erweist sich als schwierig. Mehr als einige Meter können wir die schwarze, steinige Küste nicht erklimmen: linkerhand döst eine Gruppe Pelzrobben auf dem Eis, rechterhand haben die Pinguine das Sagen. Das Wetter ist so ungemütlich, dass selbst sie zweifelnd am Ufer stehen und den Schritt, in den Ozean zu tauchen längstmöglich hinauszuzögern scheinen. Wir entscheiden uns, die Küste eher vom Dinghi aus zu erkunden. Ein Wal zieht in der Nähe vorbei und als er abtaucht bekommen wir Besuch von einem Seeleoparden. Neugierig nimmt er Kontakt auf, scheint sich sehr für das orangefarbene Gummiding, in dem wir sitzen, zu interessieren. Er folgt uns, taucht immer wieder ab und plötzlich neben dem Boot wieder auf oder darunter hindurch. Er ist unglaublich schnell, im klaren Wasser gut zu beobachten. Aus unmittelbarer Nähe wirkt er imposant, der Kopf und das Maul riesig, nicht mehr so freundlich lächelnd, wie jene, die wir friedlich auf einer Eisscholle schlummernd getroffen haben. Es wird uns ein wenig mulmig, der Gedanke an ein Aufeinandertreffen von Gebiss und Gummi mit ungewissem Ausgang lässt uns zumindest vorsorglich zu den Paddeln greifen. Mehr als eine halbe Stunde dauert diese gegenseitige Begegnung, dann treten wir den Rückzug auf die sichere Selma an.